Vor einigen Jahren befragten Studierende im Rahmen meines Seminars zu Kölns kolonialer Vergangenheit Passantinnen und Passanten zum Ursprung des Namens „Tangastraße“. Niemand kannte die richtige Antwort, und das einzig bemerkenswerte Ergebnis der Umfrage war, dass viele der Befragten davon ausgingen, eine Stadt würde ein Unterwäscheteil durch einen Straßennamen ehren. Tatsächlich erinnert der Name an die „Schlacht bei Tanga“, eine militärische Auseinandersetzung zwischen Großbritannien und dem Deutschen Reich während des Ersten Weltkrieges bei der Stadt Tanga in der damaligen Kolonie Deutsch-Ostafrika, heute Tansania, aus der die Deutschen siegreich hervorgingen.
Der deutsche Kolonialismus hat tiefe Spuren in den städtischen Räumen hinterlassen. Straßennamen und Denkmäler ehren Rassisten und Kolonialverbrecher, glorifizieren Kriege gegen Menschen, die sich gegen die gewaltsame Aneignung ihrer Lebensräume zur Wehr setzten. Ein kritisches Bewusstsein für die historischen Hintergründe dieser Erinnerungsorte gab es bislang in Deutschland kaum. Dabei engagieren sich seit Jahrzehnten postkoloniale aktivistische Initiativen für eine angemessene Erinnerungskultur, die Umbenennung von Straßen, den Abbau oder die Veränderung von Denkmälern. Passiert ist bisher wenig, vor allem wenig Grundsätzliches. In langwierigen Prozessen wurden in verschiedenen Städten Straßen umbenannt, einige koloniale Denkmäler wurden zu anti-kolonialen Mahnmalen umgewidmet, erklärende Tafeln wurden angebracht. Angesichts der weitgehenden Untätigkeit vonseiten der Politik und Teilen der Gesellschaft kann es nicht verwundern, dass im Rahmen von Demonstrationen oder Aktionen, spontan oder geplant, Denkmäler gestürzt oder mit Farbe beschmiert, Straßenschilder überklebt werden. Aneignung von Handlungsmacht gegen Untätigkeit, Provokation gegen Gleichgültigkeit.
Nach der Ermordung von George Floyd im Mai und im Zuge der Demonstrationen in den USA wurde auch in Deutschland eine größere Öffentlichkeit auf die Themen Rassismus, Kolonialismus, Versklavungshandel und Black Lives Matter aufmerksam. Auch hier wurde demonstriert, gab es Aktionen an Denkmälern und Straßen- oder U-Bahnschildern. Nicht zuletzt die breite mediale Beschäftigung mit den genannten Themen dürfte Menschen erreicht haben, die sich noch nie damit beschäftigt hatten. Inzwischen sind einige Monate vergangen, und es ist merklich ruhiger geworden, sodass Zweifel an der Nachhaltigkeit angebracht erscheinen.
Diskussionsrunden in den Medien, Interviews und Kommentare in Zeitschriften und Foren machen deutlich, dass immer noch sehr großes Unwissen über die deutsche Kolonialvergangenheit, die Verwicklung Deutschlands in den Versklavungshandel und afrodeutsche Geschichte besteht. Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass diese Themen lange Zeit kaum in den Schulen unterrichtet wurden. Auch heute noch werden sie eher marginal behandelt, fehlt vor allem der grundlegende Zusammenhang von Versklavungshandel, Kolonialismus und Rassismus, der nicht durch wenige Unterrichtsstunden im Fach Geschichte herzustellen ist. Nur durch die Vermittlung von Wissen lässt sich zukünftig verhindern, dass in einer Talkshow fünf weiße Personen über Rassismus diskutieren, dass ein weißer Wissenschaftler im Interview behaupten kann, in den deutschen Kolonien sei nicht in besonderer Weise unterdrückt worden und als Beispiel Namibia anführt, oder dass eine sehr positive bis romantisierende Sicht auf die Kolonialzeit weiter bei uns vorherrscht. Vielen Menschen fällt die ständige Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte nicht leicht. Das kann nicht verwundern, geht es doch nicht nur um Schilder und Denkmäler, sondern auch um die Konstruktion von Identitäten. Die Einsicht, dass rassistische Traditionslinien bis in die Gegenwart hineinreichen und struktureller Rassismus vorhanden ist, ist schmerzhaft und löst Abwehr aus.
Trotzdem haben die letzten Monate deutlich gemacht, dass eine angemessene Erinnerungskultur überfällig ist. Erinnerungskultur darf nicht statisch sein; jede Zeit entwickelt neue Perspektiven auf bestimmte Kapitel der Geschichte. Und das ist gut so. Dabei geht es nicht darum, bestimmte Kapitel der Geschichte auszumerzen – ein Vorwurf, der immer wieder laut wird. Die postkolonialen Initiativen machen stets darauf aufmerksam, dass die deutsche Kolonialgeschichte nicht aus dem Stadtbild verschwinden soll. Es geht vielmehr darum, unsere Perspektive darauf zu verändern. Nicht länger sollen die Täter geehrt werden, sondern der antikoloniale Widerstand, antikoloniale Denkerinnen und Denker, der Kampf gegen Rassismus und schließlich auch die Opfer von kolonialer Gewalt und Rassismus sollen ins Zentrum der Erinnerungskultur gerückt werden. Diese veränderte Perspektive kann als Leitlinie z. B. bei Umbenennungsdiskussionen dienen. So nachvollziehbar der Sturz von Denkmälern ist, so wichtig ist es auch hier, nicht auszumerzen oder verschwinden zu lassen, sondern diese in Interventionen umzugestalten, zu dekonstruieren, hinzulegen oder auf den Kopf zu stellen, den Blick zu irritieren, Gegendenkmäler herzustellen, bekannt Geglaubtes in Frage zu stellen. All das muss begleitet werden durch Bildungsangebote für alle Altersklassen, Geschichtsparcours, Texttafeln und vieles mehr. Mittelfristig schließlich sollte auch ein zentraler Erinnerungs- und Lernort geschaffen werden.
Bis heute entscheiden vorwiegend weiße Menschen darüber, wie koloniale Erinnerungskultur auszusehen hat, was rassistisch ist und was nicht. Weiße Menschen haben bis heute die Definitionsmacht in unserer Gesellschaft. Hier muss sich Grundlegendes ändern. Menschen aus den ehemaligen Kolonien, People of Colour, Menschen mit Rassismuserfahrung müssen maßgeblich an der Entwicklung einer angemessenen Erinnerungskultur beteiligt sein, auch und vor allem als Entscheider. Auf ihre Stimmen gilt es zu hören, ihre Stimmen müssen ernst genommen werden. Denn es gilt, nicht nur den Stadtraum zu dekolonialisieren, sondern auch das Denken.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2020.