Am Beginn der Erinnerungskultur in Deutschland steht Luther. Zumindest bei den öffentlichen Inszenierungsformen. Denn das erste bürgerliche Denkmal auf einem Marktplatz ehrt den Reformator: seit 1821 vor dem Wittenberger Rathaus, eine ganzfigurige Statue von Johann Gottfried Schadow, der sich mit seinem Personenstandbild im ersten dokumentierten Kunstwettbewerb gegen Entwürfe z. B. eines griechischen Tempels oder eines Ehrenhains durchsetzte. Auch bei den Gedenkstätten setzte Luther den Anfang: in Eisleben – und damit 300 Jahre vor Schiller in Weimar – mit dem Haus, in dem er starb und in dem schon kurz nach 1546 Bett, Stuhl und der Krug des letzten Tranks ausgestellt und von Besuchern besichtigt wurden – von einem gräflichen Diener darüber belehrt, sie nicht als Reliquien zu verehren, sondern als Anlass für Reflexionen über die eigene Sterblichkeit zu nehmen, was viele Besucher nicht davon abhielt, einen Holzspan vom Bett mitzunehmen und ihn gegen Zahnschmerzen einzusetzen: protestantischer Wunderglauben. Der Lutherkult zeigt durch die Jahrhunderte hindurch, wie nah sich in ihrer Genealogie religiöse Devotionalien, touristische Souvenirs und alltagskultureller Kitsch sind.
Vom wundersamen Holzspan bis hin zur roten Luthersocke mit dem Auftrag „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“: Dazwischen türmen sich unüberschaubare Berge von Medaillen, Krügen, Kacheln, Spazierstöcken, Tellern, Tassen, Pfeifenköpfen etc. mit dem Lutherporträt, gern ergänzt durch seine Frau Katharina und die Häuser seines Wirkens, mit besonderen Konjunkturen zu den einschlägigen Jubiläen. 2017 erklomm das Merchandising einen weltweiten Höhepunkt: Rund um „500 Jahre Luther“ gab es von Frisbeescheiben mit dem Aufdruck „Hallo Luther“ und die Lutherrose als Kuchenschablone über Lutherbonbons, z. B. in der Großpackung mit Apfelgeschmack, und Lutherkrawatte mit dem Aufdruck „Here I stand“ bis hin zum ungeschlagenen Spitzenreiter, dem Playmobil-Luther, von dem fast 2 Millionen Exemplare verkauft und verschenkt wurden.
„Luther als Superstar“ – so hat ihn sogar der Deutsche Kulturrat kommuniziert, flankiert von zahlreichen Werbekampagnen, die sich gern an dem historischen Vorbild Luther orientierten, der doch einst das virale Marketing erfunden habe. Gleichzeitig gab es Kritik an der Kommerzialisierung, die manche an den Ablasshandel erinnerte, gegen den der Reformator doch so heftig polemisiert habe. Das Magazin „Public Marketing“ diagnostizierte einen „Luther-Boom“ dank intensiver Aktivitäten seitens Tourismus, Kirche und Kultureinrichtungen. Die Frage aber blieb und bleibt: Leidet dadurch die Glaubwürdigkeit von Erinnerungskultur und droht in diesem speziellen Fall die „Verlutherung“? Oder gehören solche Angebote zu einer erfolgreichen Partizipationsstrategie? Und sind notwendig, um Erinnerung zu vitalisieren und im Fall Luthers etwa die Fragen nach individueller Freiheit („Priestertum aller Gläubigen“), allgemeiner Bildungsteilhabe (Demokratisierung durch Volkssprache statt Gelehrtenlatein) oder Neuentdeckung von Sinnlichkeit statt klösterlichem Keuschheitsideal auch in der Gegenwart diskutieren zu können und dabei auch die empörenden Seiten nicht auszublenden, die wie Luthers antijudaistische Ausfälle schmerzlicher Teil deutscher Geschichte sind?
Kein Buch, kein Theaterstück, kein Musical, keine Ausstellung und natürlich auch keine Predigt, keine Tagung und keine Vortragsreihe schafft eine solche Luther-Präsenz. Tolle Performance oder doch eher peinlich? Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland versuchte den Lutherkitsch zu retten, indem er in den zahlreichen Werbeartikeln „Türöffner für das Hören auf die Botschaft Christi“ erkennen wollte, doch die Zahl der evangelischen Hörer nahm auch nach dem Reformationsjubiläum kräftig ab. Der Lutherkitsch legt das Charakteristikum von Kitsch offen: Kitsch ist eine Haltung, die keinen zweiten Blick, kein Hinterfragen kennt, so die Kulturwissenschaftlerin Franziska Hochwald. Die Provokationen Luthers bleiben hinter den glatten Oberflächen der Souvenirs und Werbeartikel verborgen und geraten dadurch in Vergessenheit. Kitsch ist ein Gedenken an der Oberfläche, Teil einer Vergessensmaschine.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2020.