Die Bedeutung von Denkmaldebatten

Denkmalstürze ersetzen nicht die Reflexion der Geschichte des Rassismus und Kolonialismus

Solche Hartnäckigkeit demonstrieren aktuell auch die Denkmäler für manche Generäle der Südstaaten im US-amerikanischen Bürgerkrieg. Nach dem Ende des Bürgerkriegs wurde die Sklaverei am 18. Dezember 1865 – mit dem 13. Zusatzartikel zur Verfassung – abgeschafft; doch noch immer steht etwa die Reiterstatue von Robert E. Lee in Charlottesville, Virginia. Ihr Abriss wird von der Black-Lives-Matter-Protestbewegung energisch gefordert, bisher aber ohne Erfolg. In der Reihe seiner Beispiele für moralische Revolutionen nennt Appiah die Abschaffung der Sklaverei an dritter Stelle, nach dem Ende des Duells und der traditionellen Verkrüppelung von Frauenfüßen in China. Doch haben Duelle und misshandelte Frauenfüße zumindest keine Denkmäler generiert, die nun gestürzt werden müssten. Moralische Revolutionen vollziehen sich mitunter sehr langsam; und sie werden wohl nicht nur im Licht der Differenz zwischen Ehre und Scham entschieden, sondern auch in Kontroversen um Erinnern und Vergessen.

 

Nicht zufällig argumentieren die Gegner von Denkmalstürzen häufig mit der Verpflichtung, gerade die erschreckend beschämenden Ereignisse oder Personen – gleichsam als historische Mahnung – in Erinnerung halten zu müssen. Doch gibt es denn so etwas wie die Verwandlung in ein „negatives Denkmal“? Oder müssen wir gerade neue Denkmäler errichten, um auch der Katastrophe eines kollektiven Versagens angemessen zu gedenken? Ein Beispiel wäre das Berliner Mahnmal für die Shoah. Ein anderes Beispiel betrifft das kriegerische Bismarck-Denkmal im Hamburger Elbpark. Soll es saniert, abgerissen oder neu gestaltet werden, etwa durch eine Inszenierung des monumentalen Schwerts als Star-Wars-Laserschwert, wie der Hamburger Notar Jens Jeep vorgeschlagen hat? In seinen Gesprächen mit Michael Ondaatje (2004) hat der Sound-Spezialist Walter Murch daran erinnert, dass „Apocalypse Now“ ursprünglich ein Projekt von George Lucas war, bis Lucas auf die Idee kam, seine Kritik am Vietnamkrieg in das Weltall zu verlegen. Die Jedi-Ritter und ihre Laserschwerter sollten also eigentlich den Vietcong repräsentieren.

 

Denkmalsdebatten sind allemal Kontroversen um die Identität und Geschichte einer Kultur. Sie artikulieren Ambivalenzen, veränderte Perspektiven, Haltungen des Stolzes oder eben der Scham. Unabhängig von den Bemühungen der UNESCO, das Weltkulturerbe in umfangreichen Listen zu erfassen, werden solche Debatten in zahlreichen Ländern geführt. Ein Beispiel aus Italien: Am 11. August 2012 wurde in Affile, Region Lazio, nahe von Rom, ein aufwendiges Mausoleum für Rodolfo Graziani eröffnet. Ausgerechnet Graziani: Das Mausoleum ehrte nicht nur einen faschistischen Politiker, sondern auch einen Kriegsverbrecher und Kolonialisten, der Äthiopien – damals Abessinien – und Libyen mit drakonischer Grausamkeit beherrschte. Francesca Melandri hat in ihrem mehrfach ausgezeichneten Roman „Sangue giusto“ (2017) die Geschichte Grazianis und seines Regimes, auch und gerade im Kontext aktueller Flucht und Migration, eindringlich dargestellt. Immerhin stoppte der neu gewählte Präsident der Region Lazio, Nicola Zingaretti, im April 2013 die Förderung des Mausoleums aus öffentlichen Budgets; ein Abriss wurde zwar gefordert, aber bis heute nicht vollzogen.

 

In gewisser Hinsicht sind Denkmaldebatten wichtiger als die rasche Entscheidung über Neuerrichtung oder Abriss eines Denkmals. Ein Kopf – etwa der Kolumbusstatue in einem Park von Boston – ist schnell abgeschlagen; aber die Enthauptung der Statue ersetzt nicht die Reflexion der Geschichte des Rassismus und Kolonialismus. Umgekehrt haben etwa die jahrelangen Auseinandersetzungen um den Neubau des Berliner Schlosses auch das Bewusstsein der Geschichte kolonialer Gewalt oder der Berechtigung von Restitutionsforderungen geschärft. Denkmaldebatten widersetzen sich nicht nur dem Schein der Unsichtbarkeit von Denkmälern; sie generieren neue Kontexte der Wahrnehmung und im besten Fall Beiträge zu einem Mentalitätswandel, vielleicht sogar zu einer moralischen Revolution im Sinne Appiahs. Denkmäler können nur zu denken geben, wenn ihre Bedeutung und Geschichte diskutiert und neu interpretiert werden kann, womöglich durch die Errichtung eines „Gegendenkmals“, eines bildnerischen Protests oder Kommentars.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2020.

Thomas Macho
Thomas Macho ist Direktor des IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften an der Kunst-universität Linz in Wien.
Vorheriger ArtikelOhne Fehl und Tadel?