Die Bedeutung von Denkmaldebatten

Denkmalstürze ersetzen nicht die Reflexion der Geschichte des Rassismus und Kolonialismus

Denkmäler verkörpern das Gedächtnis einer Kultur. Als Monumente aus Stein oder Metall, häufig überlebensgroß, versprechen sie Dauer und eine Langlebigkeit, die fast schon an Unsterblichkeit grenzen mag. Nicht zufällig hat Alan Weisman in seinem Bestseller über „The World Without Us“ (2007) betont, dass Bronzestatuen noch in zehn Millionen Jahren erkennbar bleiben werden. Doch wer wird sie dann betrachten oder verstehen? Welche Denkmäler geben uns denn heute zu denken? In einer gern zitierten Glosse aus seinem „Nachlaß zu Lebzeiten“ (1936) beobachtet Robert Musil, das „Auffallendste an Denkmälern“ sei, „daß man sie nicht bemerkt. Es gibt nichts auf der Welt, was so unsichtbar wäre wie Denkmäler.“ Anders gesagt: Die Bedeutung von Denkmälern muss immer wieder vergegenwärtigt werden, etwa durch Rituale, historische Stadtführungen, Kranzniederlegungen an einem wiederkehrenden Erinnerungstag oder erläuternde Texte auf Schildern, durch Jubiläen, durch Maßnahmen der Restaurierung, durch Denkmaldebatten oder sogar durch Denkmalstürze. Rituale und Narrationen sind vermutlich haltbarer als Stein und Metall.

 

Wann werden Denkmäler gestürzt? Eine Antwort scheint nicht schwerzufallen: Denkmalstürze begleiten zumeist einen Wechsel der Regierungsform, von der Monarchie zur Republik, von einer Demokratie zur Diktatur; sie folgen einer blutigen oder friedlichen Revolution. Sie können aber auch einen Wandel der Mentalitäten ausdrücken, etwa im Zuge der Einführung einer neuen Religion. Mitunter manifestieren sich in Denkmalstürzen religiöse Konflikte, etwa in den byzantinischen oder protestantischen Bilderstürmen, in denen die Göttlichkeit von Bildern oder die Verehrung von Heiligenstatuen bekämpft wurde. Im 20. und 21. Jahrhundert waren es vorrangig politische Systeme, deren Zusammenbrüche zu Denkmalstürzen führten, etwa nach 1945 oder 1989. Manchmal blieben freilich nur die Denkmäler stehen, während die Städte in Trümmern lagen: Als ikonisches Beispiel kann die Fotografie des Berliner Lessingdenkmals im Tiergarten gelten, das Fritz Eschen 1947 aufgenommen hat. Das monumentale Berliner Lenindenkmal wurde dagegen abgebaut, in 130 Teilstücke zerlegt und im Wald am südöstlichen Stadtrand verscharrt; erst der Film „Good Bye, Lenin“ von Wolfgang Becker (2003) soll dazu beigetragen haben, wenigstens den Granitkopf wieder auszugraben und seit April 2016 in einer Dauerausstellung der Spandauer Zitadelle zu präsentieren.

 

Ein Denkmalsturz endet also im Museum oder gar in einem Vergnügungspark, wie ihn Martin Parr im litauischen „Stalin World“ fotografiert hat. Auf seinen Fotos sehen wir zeitgenössische Jugendliche, Paare oder Familien, die vor den mehr oder weniger lieblos arrangierten Monumenten posieren. Die Denkmäler werden in Kulissen verwandelt, in Bühnenbilder für Selfies, abgelöst von Erinnerungen, Ritualen und Erzählungen. Das Denkmal im Museum ist ein gespenstischer Doppelgänger historischer Erfahrung, unsichtbar nicht durch Gewöhnung, sondern durch die Fülle von Exponaten, unabhängig davon, ob sie unter Bäumen in einem Park oder im Saal eines Museums stehen. 1953 haben Chris Marker und Alain Resnais den Dokumentarfilm „Les Statues meurent aussi“ gedreht; er beginnt mit den programmatischen Sätzen: „Wenn die Menschen sterben, treten sie in die Geschichte ein; wenn die Statuen sterben, werden sie Kunst. Es ist diese Botanik des Todes, die wir Kultur nennen.“ Solche Botanik ist mehrdeutig: Was sie zu retten scheint, entleert sie zugleich. Sie erfasst die Spuren entlegener Vergangenheit; doch inventarisiert sie zumeist nur die aus allen Kontexten herausgelösten, präparierten Objekte, die jeden lebendigen Glanz verloren haben.

 

Ein Denkmalsturz revidiert das Verhältnis zur Vergangenheit. Was bisher bewundert werden konnte, Personen oder Ereignisse, erscheint nun geradezu als peinlich. Ein Denkmalsturz ist das Ergebnis einer moralischen Revolution; moralische Revolutionen, so argumentiert Kwame Anthony Appiah in „The Honor Code“ (2010), werden primär nicht an der Leitdifferenz von Gut und Böse, sondern von Ehre und Scham entschieden. Ab einem bestimmten Augenblick wird es als beschämend wahrgenommen, die Adresse einer mehr als 650 Jahre alten Universität als Verweis auf den antisemitischen Wiener Bürgermeister Karl Lueger wahrnehmen zu müssen, dem selbst Kaiser Franz Joseph mehrfach die Ernennung verweigerte. Immerhin dauerte es fast 80 Jahre, bis ein neuer Name durchgesetzt wurde; gegenwärtig wird ein Abriss des Lueger-Denkmals – nahe der Ringstraße – gefordert und kontrovers diskutiert. Die Statue des Bürgermeisters, eines Vorbilds für Adolf Hitler, wurde mehrmals übermalt und beschmiert, etwa mit dem Wort „Schande“. Doch Denkmäler sind zäh und können sich offenbar hartnäckig ihrem Sturz widersetzen.

Solche Hartnäckigkeit demonstrieren aktuell auch die Denkmäler für manche Generäle der Südstaaten im US-amerikanischen Bürgerkrieg. Nach dem Ende des Bürgerkriegs wurde die Sklaverei am 18. Dezember 1865 – mit dem 13. Zusatzartikel zur Verfassung – abgeschafft; doch noch immer steht etwa die Reiterstatue von Robert E. Lee in Charlottesville, Virginia. Ihr Abriss wird von der Black-Lives-Matter-Protestbewegung energisch gefordert, bisher aber ohne Erfolg. In der Reihe seiner Beispiele für moralische Revolutionen nennt Appiah die Abschaffung der Sklaverei an dritter Stelle, nach dem Ende des Duells und der traditionellen Verkrüppelung von Frauenfüßen in China. Doch haben Duelle und misshandelte Frauenfüße zumindest keine Denkmäler generiert, die nun gestürzt werden müssten. Moralische Revolutionen vollziehen sich mitunter sehr langsam; und sie werden wohl nicht nur im Licht der Differenz zwischen Ehre und Scham entschieden, sondern auch in Kontroversen um Erinnern und Vergessen.

 

Nicht zufällig argumentieren die Gegner von Denkmalstürzen häufig mit der Verpflichtung, gerade die erschreckend beschämenden Ereignisse oder Personen – gleichsam als historische Mahnung – in Erinnerung halten zu müssen. Doch gibt es denn so etwas wie die Verwandlung in ein „negatives Denkmal“? Oder müssen wir gerade neue Denkmäler errichten, um auch der Katastrophe eines kollektiven Versagens angemessen zu gedenken? Ein Beispiel wäre das Berliner Mahnmal für die Shoah. Ein anderes Beispiel betrifft das kriegerische Bismarck-Denkmal im Hamburger Elbpark. Soll es saniert, abgerissen oder neu gestaltet werden, etwa durch eine Inszenierung des monumentalen Schwerts als Star-Wars-Laserschwert, wie der Hamburger Notar Jens Jeep vorgeschlagen hat? In seinen Gesprächen mit Michael Ondaatje (2004) hat der Sound-Spezialist Walter Murch daran erinnert, dass „Apocalypse Now“ ursprünglich ein Projekt von George Lucas war, bis Lucas auf die Idee kam, seine Kritik am Vietnamkrieg in das Weltall zu verlegen. Die Jedi-Ritter und ihre Laserschwerter sollten also eigentlich den Vietcong repräsentieren.

 

Denkmalsdebatten sind allemal Kontroversen um die Identität und Geschichte einer Kultur. Sie artikulieren Ambivalenzen, veränderte Perspektiven, Haltungen des Stolzes oder eben der Scham. Unabhängig von den Bemühungen der UNESCO, das Weltkulturerbe in umfangreichen Listen zu erfassen, werden solche Debatten in zahlreichen Ländern geführt. Ein Beispiel aus Italien: Am 11. August 2012 wurde in Affile, Region Lazio, nahe von Rom, ein aufwendiges Mausoleum für Rodolfo Graziani eröffnet. Ausgerechnet Graziani: Das Mausoleum ehrte nicht nur einen faschistischen Politiker, sondern auch einen Kriegsverbrecher und Kolonialisten, der Äthiopien – damals Abessinien – und Libyen mit drakonischer Grausamkeit beherrschte. Francesca Melandri hat in ihrem mehrfach ausgezeichneten Roman „Sangue giusto“ (2017) die Geschichte Grazianis und seines Regimes, auch und gerade im Kontext aktueller Flucht und Migration, eindringlich dargestellt. Immerhin stoppte der neu gewählte Präsident der Region Lazio, Nicola Zingaretti, im April 2013 die Förderung des Mausoleums aus öffentlichen Budgets; ein Abriss wurde zwar gefordert, aber bis heute nicht vollzogen.

 

In gewisser Hinsicht sind Denkmaldebatten wichtiger als die rasche Entscheidung über Neuerrichtung oder Abriss eines Denkmals. Ein Kopf – etwa der Kolumbusstatue in einem Park von Boston – ist schnell abgeschlagen; aber die Enthauptung der Statue ersetzt nicht die Reflexion der Geschichte des Rassismus und Kolonialismus. Umgekehrt haben etwa die jahrelangen Auseinandersetzungen um den Neubau des Berliner Schlosses auch das Bewusstsein der Geschichte kolonialer Gewalt oder der Berechtigung von Restitutionsforderungen geschärft. Denkmaldebatten widersetzen sich nicht nur dem Schein der Unsichtbarkeit von Denkmälern; sie generieren neue Kontexte der Wahrnehmung und im besten Fall Beiträge zu einem Mentalitätswandel, vielleicht sogar zu einer moralischen Revolution im Sinne Appiahs. Denkmäler können nur zu denken geben, wenn ihre Bedeutung und Geschichte diskutiert und neu interpretiert werden kann, womöglich durch die Errichtung eines „Gegendenkmals“, eines bildnerischen Protests oder Kommentars.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2020.

Thomas Macho
Thomas Macho ist Direktor des IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften an der Kunst-universität Linz in Wien.
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