Vom Gang ins Archiv

Familiengeschichte in Aktenform

Der Gang ins Archiv kann eine ziemlich persönliche Angelegenheit sein. Im vergangenen Jahr habe ich das erlebt. Ich gehe gerade einigen Spuren in meiner Familiengeschichte nach. So wollte ich Näheres über die berufliche Laufbahn meines Großvaters väterlicherseits wissen. In der Familie wurde manches erzählt. Doch wann genau war er zum Staatssekretär aufgestiegen – 1932 oder 1933? Und aus welchen Gründen wurde er schon 1934 in den Ruhestand versetzt, mit 50 Jahren? Es war nicht einfach, den Weg zu den Akten zu finden. Denn mein Großvater war zwischen den Wirtschafts- und Finanzministerien des Reichs und Preußens hin- und hergewechselt. Zum Glück stieß ich auf Fachleute, die mir mit größter Zugewandtheit, Geduld und Sorgfalt halfen. Das war mein erstes Aha-Erlebnis: Archive sind Orte, an denen man sehr hilfsbereite Menschen kennenlernen kann.

 

So ging ich also ins Preußische Geheime Staatsarchiv in Dahlem. Ein Verwaltungshistoriker hatte mich im Vorwege durch die verschlungenen Pfade des Online-Katalogs gelotst, sodass ich alles Wichtige von zu Hause bestellen konnte. Ich war gespannt, was mich erwarten und ob ich große Entdeckungen machen würde. Freundlich wurde ich empfangen, eingewiesen und in den herrlichen Lesesaal geführt. Ein Stapel von alten Akten wurde mir übergeben. Ich setze mich und begann zu lesen. Es ist schon seltsam, in der Personalakte des eigenen Großvaters – den ich übrigens nicht kennengelernt habe, weil er kurz nach dem Zweiten Weltkrieg gestorben ist – zu blättern. Es fühlt sich indiskret an, auch wenn ich es ja nur mit amtlichen Angelegenheiten zu tun bekam.

 

Ich nahm die Zeugnisse seiner juristischen Staatsexamina in die Hand, las die Gutachten seiner Hausarbeiten, verfolgte einige seiner ersten Stationen, dann musste ich über ein paar Leerstellen springen. Schließlich gelangte ich zum entscheidenden Jahr. Endlich hatte ich es schwarz auf weiß. Mein Großvater hatte seinen letzten Karrieresprung zum Staatssekretär nicht vor, sondern nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten getan. Wenn ich es recht deute, war er als Fachmann und als ein Kandidat von Alfred Hugenberg ins Kabinett gekommen. Aber was hat er sich dabei gedacht? Dazu fand ich keinen Hinweis in meinem Aktenstapel. Befremdlich war es dann, seinen Namen in allerlei Protokollen zu lesen. Die meisten von ihnen enthielten nichts inhaltlich Interessantes. Aber meinen Familiennamen da so neben den Namen von verabscheuungswürdigen Personen stehen zu sehen, hat mir schon genügt. Doch was hat er auf diesen Sitzungen gesagt, wie sich verhalten? Auch dazu gab es keine Informationen. Immerhin tröstete ich mich, dass ich bei anderen Recherchen herausfinden konnte, dass mein Großvater kein Mitglied in irgendeiner nationalsozialistischen Organisation gewesen ist. Dann nach nur einem Jahr kam sein berufliches Ende. Die Kopie eines dürren Schreibens bezeugte es. Die Gründe waren wohl eine Mischung aus Strukturreform und politischer Bereinigung. Hugenberg hatte aufgegeben, nun sollte ein Nationalsozialist an die Stelle meines Großvaters rücken. Wieder habe ich mich gefragt, wie er das erlebt hat. Und wieder habe ich in den Unterlagen keine Antwort gefunden. Aber vielleicht ist dies ja nicht das Schlechteste, was einem bei einem Archivbesuch geschehen kann: Man geht mit mehr Fragen hinaus, als man hineingekommen ist.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 03/2020.

Johann Hinrich Claussen
Johann Hinrich Claussen ist Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland.
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