Als Freie Archive bezeichnet man die Einrichtungen, die im Gefolge der 1968er Studentenbewegung am Rande der Neuen Sozialen Bewegungen entstanden sind. Zurzeit bestehen etwa 90 Freie Archive, von denen sich einige bestimmter Themen bzw. bestimmter Bewegungen annehmen, andere archivieren themen- und bewegungsübergreifend. Alle sammeln neben Archivgut auch „Graue Literatur“, also Zeitschriften, Broschüren und auch Bücher jenseits der Verlage. Der kleinste gemeinsame Nenner aller Freien Archive besteht darin, zu verhindern, dass die Geschichte der Neuen Sozialen Bewegungen zu einer Geschichte der verschollenen Dokumente wird. Eines dieser Archive ist das 1985 in Duisburg gegründete Archiv für alternatives Schrifttum (afas).
Das afas hatte von Anfang an zwei Ziele: zum einen aus Nordrhein-Westfalen (NRW) Unterlagen einzelner Bürgerinitiativen, Friedens-, Stadtteil-, Umwelt- oder Frauengruppen zu sammeln; zum anderen Materialien von Gruppen mit bundesweiter Bedeutung zu archivieren, weil lokale oder regionale Aktivitäten oft erst im größeren Kontext einer bundesweiten Bewegung verständlich werden. So kann man z. B. die lokalen Aktivitäten einer maoistischen Betriebsgruppe der 1970er Jahre erst dann politisch richtig verstehen und einordnen, wenn man sie im Kontext der bundesweit operierenden Organisation, der sie sich zuzählt, betrachtet.
In den ersten Jahren seines Bestehens bestand die Hauptaufgabe des afas darin, Spuren in NRW nachzugehen. Immerhin lagen die wilden 1960er Jahre schon rund 20 Jahre zurück und selbst für die 1970er Jahre war es oft nicht einfach, Leute zu finden, die alternative Projekte gegründet oder in besetzten Häusern gewohnt hatten, oder die in Bürgerinitiativen oder Stadtteilgruppen engagiert waren. Erste Anlaufstellen waren politische Buchläden, die Redaktionen alternativer Zeitschriften, die Büros von Friedens- oder Umweltgruppen genauso wie diejenigen links-alternativer Organisationen, aber auch die diversen autonomen Referate an den Hochschulen.
Auf diese Art kamen schnell Hunderte von Hinweisen zusammen. Manche der Angesprochenen rückten sofort ihre Schätze heraus, weil sie froh waren, den alten Kram endlich loszuwerden. Andere waren reserviert, selbst wenn ihnen die „Idee afas“ gefiel: Welche Gewähr gab es denn, dass dem afas nicht in ein paar Jahren die Puste ausging und die Sammlung zerstreut oder gar weggeworfen würde? Vertrauensbildende Maßnahmen waren erforderlich. Die Gemeinnützigkeit war hilfreich, vor allem aber die Arbeitsweise. Zwei gedruckte Zeitschriftenkataloge von 1988 und 1990 – wir befanden uns noch nicht im Zeitalter der PCs – beeindruckten sowohl die Menschen aus der Szene als auch aus dem traditionellen Archiv- und Bibliothekswesen. 1.200 verzeichnete Zeitschriften, vorwiegend „Graue Literatur“, die nicht in der Zeitschriftendatenbank (ZDB) nachgewiesen war, nach fünfjähriger Arbeit, das konnte sich sehen lassen.
Das Vertrauen wuchs, die übernommenen Sammlungen wurden größer. Die Politgruppen der 1970er bis 1990er Jahre hatten sich aufgelöst und deren papierne Überbleibsel in Form mehr oder weniger geordneter Akten wurden gern abgegeben. Ein paar Jahre nach dem Ende der Apartheid in Südafrika wurde dem afas das Archiv der deutschen Anti-Apartheid-Bewegung übereignet. Daraufhin entschlossen sich z. B. auch der Mainzer Arbeitskreis Südliches Afrika und die Kirchliche Arbeitsstelle Südliches Afrika, ihre Unterlagen dem afas zu überlassen. Aus anderen Milieus folgten die Unterlagen des Rheinischen JournalistInnenbüros, des Dachverbands der Kritischen Aktionäre, des Bundesverbands Bürgerinitiativen Umweltschutz oder das seit den 1970er Jahren bestehende, 400 Regalmeter umfassende Archiv des Umweltzentrums Münster. Auch die Bergarbeitersiedlung Rheinpreußen, die den Verkauf und Abriss ihrer Siedlung verhinderte und eine Genossenschaft gründete, vertraute ihr Archiv dem afas an. Ende 2019 trennte sich das Stadtarchiv Oberhausen vom Internationalen Frauenfriedensarchiv, „weil es im afas besser aufgehoben ist“. Und jüngst überließ Klaus der Geiger, der wohl bekannteste deutsche Straßenmusiker, ein Teil-Archiv dem afas.
Mit zunehmender Bekanntheit wurden dem afas immer mehr Bestände angetragen, die eher am Rande seines Sammelprofils liegen, aber keine andere Heimat fanden. So kamen z. B. das Archiv des 1892 gegründeten Vegetarierbundes und das Archiv der Oromo Relief Association nach Duisburg.
Der Bestand ist inzwischen auf über zwei Regalkilometer angewachsen. Er umfasst neben umfangreichen Archivbeständen rund 9.000 Zeitschriftentitel, 15.000 Broschüren, 50.000 Flugblätter, 15.000 Plakate, einige Zehntausend Fotos, rund 100 Transparente sowie zahlreiche Objekte, Flyer und Buttons.
Das afas ist in der Freien Szene, aber auch im traditionellen Archivwesen gut vernetzt. Der Verband deutscher Archivarinnen und Archivare hat 2016 ein unterstützendes Positionspapier mit dem Titel „Zur Zukunft der Archive von Protest-, Freiheits- und Emanzipationsbewegungen“ veröffentlicht. Obwohl an der Sinnhaftigkeit Freier Archive in Fachkreisen kein Zweifel besteht, ist es nur wenigen Einrichtungen gelungen, die Politik zu einer dauerhaften Absicherung ihrer Arbeit zu bewegen.
Das afas verfügte in den 35 Jahren seines Bestehens nie über feste Stellen, musste immer von befristeten Projektmitteln leben und arbeitete oft monatelang unbezahlt. 2017 wurde einvernehmlich zwischen allen NRW-Landtagsparteien – ohne AfD – erstmalig ein Haushaltsposten für das afas eingerichtet, der jedoch 2018 von bis heute anonym gebliebenen Kräften aus den Regierungsparteien CDU und FDP ersatzlos gestrichen wurde – am zuständigen Ministerium und dem Kulturausschuss des Landtags vorbei. Dadurch, dass die Landschaftsverbände Rheinland und Westfalen, vor allem aber die Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur als zusätzliche Geldgeber gewonnen werden konnten, bewilligte auch das NRW-Kulturministerium Projektmittel. So ist zwar die Weiterarbeit des afas bis 2022 gesichert, doch wie es danach aussieht, steht in den Sternen bzw. hängt vom Ausgang der nächsten Landtagswahl ab. Für ein Archiv, das auf Dauer angelegt ist und Verlässlichkeit garantieren soll, ist dies eine höchst unbefriedigende Situation.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 03/2020.