Eine etablierte Harmoniekirche erinnert sich an einen Aufbruch

Gedanken zu 500 Jahren Reformation

„Hier stehe ich, ich kann nicht anders.“ Gleich zweimal „Ich“ in einem Satz.

 

Der Mann, der das 1521 vor den Großen des Reiches in Worms aussprach, hat damals sicher Fassungslosigkeit ausgelöst. „Gegen das eigene Gewissen zu handeln ist nicht gut vor Gott“: Noch einmal die eigene Auffassung, wenn auch sehr allgemein formuliert.

 

Luthers Rede steckte voller „Ich“. Wie konnte ein Mensch auf die verrückte Idee kommen, seine eigene Auffassung über die Lehren der Kirche zu stellen? Über eine jahrhundertealte Tradition gelehrter, wahrheitsverpflichteter Deutung?

 

Von vielen wurde der unbedeutende Mönch aber auch gefeiert und verehrt. Man kann sich heute kaum noch vorstellen, welche Faszination diese neue Idee hatte: dass das kritische Gewissen eines Einzelnen höher stehen konnte als alle Autorität und Tradition.

„Religion ist eine Sache persönlicher Verantwortung. Nichts darf sich zwischen Gott und das Herz eines Menschen stellen!“

Luthers Programm lässt sich bereits aus der ersten seiner 95 Thesen von 1517 herauslesen: „Als unser Herr und Meister Jesus Christus sagte: ‚Tut Buße!’, wollte er, dass das ganze Leben der Glaubenden Buße sei.“ Viele verstanden sofort, was das hieß: Religion ist eine Sache persönlicher Verantwortung. Nichts darf sich zwischen Gott und das Herz eines Menschen stellen! Alle religiösen Formen und Vermittlungsinstanzen – vom Priester über die Beichte bis hin zu den heiligen Texten – sind bei aller Notwendigkeit immer auch unreligiös. Das gesamte System der mittelalterlichen Kirche war damit in Frage gestellt.

 

Luther folgte der irritierenden Religionskritik der Propheten („Liebe will ich, nicht Opfer!“), eines Franziskus, eines Meister Eckhart, und natürlich der des Jesus von Nazareth („Der Sabbat ist für den Menschen da!“). Von solch kritischer Schärfe aber ist in der protestantischen Kirche heute nicht das Allergeringste mehr zu spüren. Stattdessen herrscht da eine geradezu gespenstische Selbstzufriedenheit. „Business as usual“ hat das Altbundeskanzler Helmut Schmidt schon 2001 einmal genannt, höchst verwundert angesichts des massiven Bedeutungsverlustes der Kirchen.

 

Die protestantische Kirche ist nichts weniger als protestantisch. Medienkompatibel und in gesellschaftspolitischer Korrektheit beschäftigt sie sich mit Randgruppen und mit ethischen Fragen. Nicht aber mit Religion. Die katholische Schwesterkirche wird mit unbedingtem Zuvorkommen behandelt. Wer Kritik und Besorgnis äußert, gilt als Nestbeschmutzer mit Lust an der „Selbstzerfleischung“ (Margot Käßmann).

 

Die evangelische Kirchenleitung ist stolz darauf, dass das Reformationsjubiläum von Anfang an „in ökumenischer Zusammenarbeit“ vorbereitet wird. Sie behauptet sogar, der protestantische Grundsatz „allein die Schrift“ werde inzwischen auch von der katholischen Kirche anerkannt. Hat man eigentlich einmal die dort allein entscheidenden kirchenjuristischen Bestimmungen gelesen und auf ihre Bezüge zur Bibel hin untersucht? Man wird kaum welche finden. Aber wichtig ist offenbar nur, dass man nett ist zueinander.

„Gar keiner Erwähnung wert scheint es, dass die allermeisten Menschen mit ihren Anliegen, Fragen und Erfahrungen in dieser Kirche gar nicht vorkommen.“

Gar keiner Erwähnung wert scheint es, dass die allermeisten Menschen mit ihren Anliegen, Fragen und Erfahrungen in dieser Kirche gar nicht vorkommen. Dass Religion im Kern „Lebensdeutung“ ist (Wilhelm Gräb) oder „Lebenssteigerung“ (William James), das scheint man da gar nicht mehr zu verstehen. Wer braucht diese Kirche, die sich selbst säkularisiert? In den Gemeinden sind es immer dieselben Leute, die (noch) kommen, und das oft nicht aus religiösen Gründen.

 

Das ist ein Protestantismus ohne Protest, sogar ohne Gegenüber, zahnlos und langweilig geworden. Eine sehr un-protestantische Pastorenkirche, zu der Fulbert Steffensky – ehemaliger Katholik – gesagt hat: evangelische Gottesdienste seien noch klerikaler als katholische.

 

Luther hatte eine neue Freiheit des Herzens gebracht, die die alte des Christentums ist: die des Auszugs aus Ägypten, die der Deportierten in Babylon, die der Wüste – und die aus christlicher Sicht immer besser ist als die „Fleischtöpfe Ägyptens“ und der gesellschaftspolitischen Korrektheit. Denn sie dient nicht den strukturellen Absicherungen, sondern dem Leben.

 

Diese Freiheit war immer durch leidvolle Erfahrungen erkauft. Das zeigen die Leiden der Propheten, des Hiob und die Passion des Jesus. Und auch die Freiheit Luthers ist Ergebnis eines schmerzhaften Ringens gewesen, das auch in seinem späteren Leben nie ganz verstummt ist. Die protestantische Kirche aber rüstet sich 2017 zu einer feierlichen Selbstbestätigung, die etwas Gespenstisches an sich hat. Mitten im drastischsten Bedeutungsschwund, den das Christentum seit Beginn seiner Geschichte erlebt, entzieht sie sich konsequent jeder Selbstkritik. Nirgendwo ist ein theologisch ernsthaftes Nachdenken, gar eine erregte Debatte zu erkennen – wie man das angesichts des dramatischen Abwärtstrends eigentlich erwarten sollte. Man will offenbar gemütlich unter sich sein.

 

Die große Mehrheit der Menschen findet sich mit ihren Lebensthemen und religiösen Fragen und Sehnsüchten da nicht wieder. Kirche, quo vadis? Hast du eigentlich bemerkt, dass die allermeisten Menschen dich gar nicht mehr ernst nehmen? Was willst du da feiern? Eine Reformation wäre nötig!

Joachim Kunstmann
Joachim Kunstmann ist Professor an der Pädagogischen Hochschule Weingarten.
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