Krise der Menschenrechtspolitik?

Zum Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte

Siebzig Jahre nach Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte am 10. Dezember 1948 befinden sich die Menschenrechte international in schwieriger Verfassung. Deutlich wurde dies einmal mehr, als die USA im Juni 2018 ihren Rückzug aus dem UN-Menschenrechtsrat erklärten. Überraschend war weniger der US-Ausstieg als solcher als die Tatsache, dass er in der internationalen Öffentlichkeit kaum noch Bestürzung auslöste. Es scheint, als habe man sich an die Krise des Multilateralismus, der voll auch auf die Menschenrechtspolitik durchschlägt, bereits gewöhnt. Derweilen missbraucht Putin seine Veto-Macht im UN-Sicherheitsrat, um das Assad-Regime, dem hunderttausendfacher Mord vorgeworfen wird, vor ernsten Maßnahmen zu schützen. In der Türkei werden Oppositionelle von einer willfährigen Justiz zu langen Haftstrafen verurteilt. Auch die bis vor einigen Jahren gehegte Hoffnung, die Volksrepublik China befinde sich auf einem langen, aber irreversiblen Weg hin zur Rechtsstaatlichkeit, hat sich vorerst wohl als Illusion entpuppt.

 

Selbst in etablierten westlichen Demokratien hat sich die Stimmungslage verändert. Der italienische Innenminister Matteo Salvini spricht von Flüchtlingen als bloßem „Menschenfleisch“, das er von den Küsten seines Landes fernhalten will. In einer Europäischen Union, die nicht die Kraft zu koordinierter Asylpolitik aufbringt, stoßen solche menschenverachtenden Töne allenfalls auf leise, fast schon verschämte Kritik. Ungarns Ministerpräsident, der sein Land zum Modell „illiberaler Demokratie“ aufbaut, beschneidet den Entfaltungsraum zivilgesellschaftlicher Organisationen, die als Agenten des Auslands diskreditiert werden. In der Schweiz findet ein von der rechtskonservativen Schweizer Volkspartei initiiertes Referendum unter dem Motto „Schweizer Recht statt fremde Richter“ statt, dessen Ziel darin besteht, das Land aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte herauszulösen. Donalds Trumps Sicherheitsberater John Bolton stößt Drohungen gegen den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag aus, die man in solcher Schärfe bislang nicht für möglich gehalten hätte.

 

Ein altgedienter Europapolitiker sagte kürzlich in internem Kreis, er habe sich nicht vorstellen können, dass er gegen Ende seiner Laufbahn noch einmal ganz grundständig für Demokratie und Rechtsstaat würde kämpfen müssen. Genau diese Situation sei aber nun eingetreten. Historische Errungenschaften, von denen man glaubte, sie hätten sich inzwischen bewährt, stehen erneut zur Debatte. Dies betrifft auch die Menschenrechte. Michael Ignatieff schrieb vor einigen Jahren noch, die Menschenrechte hätten sich zumindest in ihrer Funktion als „lingua franca of global moral thought“ weltweit durchgesetzt. Solche Gewissheiten sind inzwischen dahingeschwunden. Nichts ist offenbar irreversibel. Manche Kommentatoren fürchten sogar, dass das historische Projekt, das darauf abzielt, im Medium internationalen Rechts menschenrechtliche Standards zu etablieren und sukzessive immer besser durchzusetzen, insgesamt auf dem Spiel stehen könnte.

 

Gewiss: Eine gewisse Enttäuschungsresistenz gehört zur Grundvoraussetzung jeder nachhaltig angelegten Menschenrechtsarbeit. Außerdem steht es der Menschenrechtspolitik gut an, sich durch Widerstand nicht ins Bockshorn jagen zu lassen. Auch wenn die jüngste Welle des Autoritarismus beängstigend ist, zeigt sich doch zugleich immer wieder, dass autokratische Regime über den Gestus kraftvoller Entschiedenheit hinaus letztlich wenig zustande bringen. Allerdings stößt die Haltung eines trotzigen „Weiter so“ spätestens dort an seine Grenzen, wo Regierungen sich nicht einmal mehr um eine menschenrechtliche Fassade bemühen. Der Vorwurf von Menschenrechtsverletzungen löst neuerdings nicht einmal mehr überall die altbekannten apologetischen Reflexe aus, sondern läuft schlicht ins Leere: „Human rights – so what?“

 

Deutlich geworden ist, dass menschenrechtliche Institutionen und Monitoring-Verfahren keineswegs von selbst funktionieren, weshalb es nicht genügt, sie dem Management professioneller Administratoren zu überlassen. Sie brauchen breite politische Unterstützung, die außerdem immer wieder neu erarbeitet werden muss. Daraus wiederum folgt, dass Menschenrechtsarbeit insgesamt politischer werden muss. Sie muss elementarer und zugleich praktischer werden; sie braucht narrative Grundierung und gleichzeitig begriffliche Präzision; sie verlangt nach theoretischer Reflexion genauso wie nach empirischer Recherche; sie muss pädagogischer werden und zugleich über die Biederkeit unpolitischer Werteerziehung hinauskommen.

Heiner Bielefeldt
Heiner Bielefeldt hat den Lehrstuhl für Menschenrechte und Menschenrechtspolitik an der Universität Erlangen-Nürnberg inne.
Vorheriger ArtikelJüdische und islamische Perspektiven auf Menschenrechte
Nächster ArtikelVerbindende Perspektive