Krise der Menschenrechtspolitik?

Zum Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte

 

Unter diesen Vorzeichen stehen nun auch die Veranstaltungen zum 70. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR). Die Besinnung auf dieses „Mutterdokument“ des internationalen Menschenrechtsschutzes bietet Chancen, die nicht ungenutzt bleiben dürfen. Bis heute hat kein anderes Menschenrechtsdokument vergleichbare Popularität erlangt. Dies dürfte vor allem daran liegen, dass der Text mit seiner Präambel und den 30 Artikeln knapp und verständlich ist. Die AEMR bildete den Auftakt für einen Prozess sukzessiver Verrechtlichung der Menschenrechte in verbindlichen Konventionen, der in den darauffolgenden Jahrzehnten stattfand. Dass die AEMR gegenüber den späteren Konventionen juristisch „unterkomplex“ ist, macht einerseits ihre Grenze aus, hat aber andererseits den großen Vorzug, dass sie sich leicht erschließen lässt. Wer wissen möchte, worum es im Kern bei den Menschenrechten geht, ist mit der AEMR nach wie vor gut bedient.

 

Stark ist schon die Präambel. Sie beginnt mit der „Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie inhärenten Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte“. Wie das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland mit der Würde des Menschen einsetzt und von dorther das Bekenntnis zu unveräußerlichen Menschenrechten herleitet, so betont bereits die AEMR den Zusammenhang zwischen Würde und Rechten der Menschen. Diese Figur taucht dann ähnlich auch in Artikel 1 der AEMR auf, deren erster Satz Berühmtheit erlangt hat: „Alle Menschen sind frei und an Würde und Rechten gleich geboren.“ Dies beschreibt in nuce das normative Profil der Menschenrechte. Noch knapper könnte man es auf die Formel bringen: gleiche Würde und gleiche Freiheit für alle. Dieses innere Zentrum der Menschenrechtsidee darf in der Fülle der einzelnen menschenrechtlichen Ansprüche nicht verloren gehen. Vielmehr sind alle konkreten Menschenrechte von dieser grundlegenden Idee her zu lesen: Es geht immer um gleiche Würde und gleiche Freiheit, und zwar letztlich in einer alle Menschen umfassenden Perspektive. Um dies zu verstehen, braucht es weder akademische Zertifikate noch eine spezielle Ausbildung. Die Überzeugungskraft, ja Attrakti­vität der Menschenrechte beruht gerade darin, dass sie im Kern sehr einfach sind – was nicht aus­schließt, dass komplizierte Fragen auftreten, sobald man die Implikationen genauer verstehen will. Menschenrechte entfalten ihren „Appeal“ über kulturelle, religiöse, politische und sonstige Grenzen hinweg. Es geht keineswegs darum, Differenzen zum Verschwinden zu bringen – im Gegenteil. Menschenrechte setzen voraus, dass Menschen unterschiedliche Biografien, Überzeugungen, Lebenspläne – inzwischen anerkanntermaßen auch unterschiedliche sexuelle Orientierungen – haben. „Diversity“ gehört zum menschlichen Leben. Der egalitäre Universalismus der Menschenrechte zielt gerade nicht auf Uniformität. Um es auf Englisch zu sagen: „Equality“ meint nicht „sameness“. Wichtig ist allerdings, dass die Menschen ihre Differenzen in Überzeugung, politischer Haltung und kultureller Prägung frei und offen artikulieren können. Menschenrechte akzeptieren keine stumme „Andersheit“. Vor allem darf der Hinweis auf kulturelle oder sonstige „Andersheit“ nicht zum Vorwand dafür herhalten, hegemoniale Strukturen, Interpretationsmonopole oder gar Einparteiensysteme gegen Kritik zu immunisieren. Gegen solche Hermetik entfalten Menschenrechte weiterhin subversive Kraft.

 

Die Präambel der AEMR verweist sodann auf „Akte der Barbarei, die das Gewissen der Menschheit mit Empörung erfüllen“. Menschenrechte sind kein theoretisches „Konstrukt“. Sie reagieren auf Erfahrungen himmelschreienden Unrechts. Unter dem Schock des Zweiten Weltkriegs, der Genozide an den europäischen Juden, an Sinti und Roma und anderer „Crimes against humanity“ entfaltet die Metapher des „Gewissens der Menschheit“ eine intuitive Plausibilität. Es kann einfach nicht sein, dass die Verhöhnung jeder Menschlichkeit in einer Politik systematischer Menschenverachtung ohne politisch-rechtliche Antwort bleibt. Für diese Einsicht steht die AEMR. Sie hat nichts an ihrer Aktualität verloren. Akte der Barbarei finden derzeit in Syrien, Myanmar und anderswo vor den Augen der Weltöffentlichkeit statt, derweilen Menschen, die aus solchen Krisengebieten fliehen, an den Zäunen Europas stecken bleiben oder im Mittelmeer ertrinken. Die Gedenkfeiern zu 70 Jahren AEMR können nur als Protest gegen den um sich greifenden Zynismus sinnvoll sein.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 6/2018.

Heiner Bielefeldt
Heiner Bielefeldt hat den Lehrstuhl für Menschenrechte und Menschenrechtspolitik an der Universität Erlangen-Nürnberg inne.
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