Jüdische und islamische Perspektiven auf Menschenrechte

Ergebnisse einer Ringvorlesung des Jüdischen Museums Berlin

 

Das Judentum und die Debatte um die Menschenrechte

Alle Vorträge über die jüdische Haltung gegenüber den Menschenrechten durchzog die unhinterfragt gebliebene Überzeugung, dass das Judentum die Menschenrechte als einen integralen Teil der eigenen Tradition ansähe. Dennoch würde sich auch hier eine vertiefte Auseinandersetzung mit traditionellen Vorschriften und Vorstellungen lohnen; so bei Themen wie Gleichheit aller Menschen, Todesstrafe oder Religionsfreiheit. Das gerade hier zutage tretende spannungsreiche Verhältnis zwischen den Menschenrechten und den religiösen Grundsätzen wurde jedoch von den Referenten durchgehend nicht thematisiert.

 

Diese Haltung mag auf den ersten Blick einer religiösen Vereinnahmung gleichkommen. Jedoch entspringt sie, anders als bei vergleichbaren islamischen Diskursen, nicht dem Impuls der Verteidigung des eigenen moralischen Souveränitätsbereiches und hat keinen apologetischen Impetus. Vielmehr muss sie als Zeichen einer starken kulturellen Verwurzelung in den Diskursen der säkularen westlichen Gesellschaft verstanden werden, in deren Folge eine mögliche Spannung zwischen Judentum und Menschenrechten überhaupt nicht mehr wahrgenommen wird.

 

Fazit

Wohlwissend um den nicht repräsentativen Charakter der Reihe lässt sich aus ihr doch ein sehr deutlicher und sicherlich auch konstituierender Unterschied zwischen dem muslimischen und dem jüdischen Diskurs herauslesen. Während viele muslimische Theologen in einer lebendigen Auseinandersetzung um die Einordnung des Menschenrechtskonzeptes in einen authentischen islamischen Diskurs ringen, sieht das Gros der jüdischen Theologen die Menschenrechte als ein wichtiges Element der eigenen Tradition. Diese so unterschiedliche Herangehensweise an die Frage der Vereinbarkeit eigener Traditionen mit den Menschenrechten beruht nicht auf tatsächlich vorhandenen genuinen Unterschieden, denn beide Religionen kennen mit der Halacha und dem Fikh ein normatives Bezugssystem, das sich auf alle Lebensbereiche erstreckt. Vielmehr gründet sie auf Faktoren außerhalb der Tradition, nämlich den historischen Erfahrungen in den letzten Jahrhunderten.

 

Als der moderne zentralisierte Staat in Europa entstand, sahen sich die jüdischen Gemeinden mit dem Verlust ihrer Autonomie konfrontiert, was den Geltungsrahmen des jüdischen Gesetzes wesentlich beeinträchtigte. Zudem wurden die Säkularisierungsprozesse in den westlichen Gesellschaften, in denen die Juden lebten, zum Bestandteil ihrer Alltagserfahrung. Hinzu kam, dass die Menschenrechte vor ihrer Verwandlung zu einem international verbürgten Konzept für Juden deckungsgleich mit den Bürgerrechten waren, die sie im Lauf der Emanzipation angestrebt und erlangt hatten. Dies erklärt letztlich auch die herausragende Rolle von jüdischen Rechtswissenschaftlern und Denkern bei der Festlegung der Menschenrechtsdeklaration.

 

Ganz anders stellen sich die Ausgangsvoraussetzungen für die islamische Debatte dar: Dort fehlen die zahlreichen Brüche in der Umsetzungspraxis des Rechtes, wie sie das Judentum prägten. Über Jahrhunderte war das islamische Recht Grundlage in vielen islamischen Ländern, wenn auch die praktische Umsetzung sich unterschiedlich gestaltete. Im Ergebnis sind es also nicht die unterschiedlichen rechtlichen Grundlagen, sondern vor allem die historischen Erfahrungen, welche die unterschiedlichen Herangehensweisen jüdischer und islamischer Theologen an das Thema der Menschenrechte erklären.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 6/2018.

Zofia Helena Nowak
Zofia Helena Nowak ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Jüdisch-Islamischen Forum der Akademieprogramme am Jüdischen Museum Berlin.
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