Vor wenigen Tagen wurde Jürgen Habermas 90 Jahre alt. Seine Ehrenvorlesung an der Universität Frankfurt sahen und hörten 3.000 Gäste. Kein deutsches Feuilleton, das sich nicht mit Person und Bedeutung dieses großen Sozialphilosophen befasste. Im Fokus dabei vor allem die „Theorie des kommunikativen Handelns“ von 1981, sie gilt als Habermas’ Hauptwerk, mündend in der idealen Vision eines „herrschaftsfreien Diskurses“.
Einen Monat vor Habermas’ Geburtstag wurde die politische Kommunikation in Deutschland von einem Phänomen erschüttert, das die Frage nach der Aktualität von Habermas’ erster großer wissenschaftlicher Arbeit aufwirft: „Strukturwandel der Öffentlichkeit“, Habermas’ Habilitationsschrift von 1962.
Was könnte eine fast 60 Jahre alte sozialhistorische Untersuchung mit dem Video eines jungen YouTubers zu tun haben, der 58 Minuten lang die Regierungspolitik, vor allem der Unionsparteien, attackiert?
Sehr viel. 15 Millionen Menschen haben sich dieses Video ganz oder teilweise angesehen. Die aktiven Reaktionen darauf – sei es in Form von „Likes“ oder in Foren niedergeschriebenen Kommentaren – liegen im siebenstelligen Bereich. Zumindest in Deutschland beispiellos für ein Produkt außerhalb der klassischen Massenmedien – und außerhalb der etablierten Informationskreisläufe, in denen vor allem professionelle Politiker und Medienmacher Inhalt und Form eines Diskurses bestimmen. Das lesende, hörende, sehende Publikum bleibt dabei wesentlich in der Rolle von Medienkonsumenten. Aktiv Eingreifen in den Prozess können sie kaum. Diese strukturell passive Rolle von Konsumenten der Massenmedien ist integraler Bestandteil der Habermas’schen „Strukturwandel“-Analyse. Sein Begriff von Öffentlichkeit bedeutet Öffentlichkeit als Diskurs- und Entscheidungsraum, dessen Qualität durchaus von Inhalten medial vermittelter Informationen und Teilhabemöglichkeiten abhängen. Auch aus diesem Grund ist sein Befund über den Zustand der modernen Öffentlichkeit – unter den Bedingungen dessen, was die Frankfurter Schule „Kulturindustrie“ nannte – ein zutiefst ambivalenter: Zwischen Informationsfülle moderner Medien und Mangel an aktiver Teilhabe.
Politisch zugespitzt haben den Begriff der „Öffentlichkeit“ zehn Jahre nach Habermas Alexander Kluge und Oskar Negt in „Öffentlichkeit und Erfahrung“. Ein explizit politisches Konzept, in dem Öffentlichkeit sich als handelndes gesellschaftliches Subjekt konstituiert – wobei medial vermittelte Kommunikation bremsende oder beschleunigende Funktion haben kann. Je nachdem. Oder sowohl als auch.
Wie die Situation sich vor 50 Jahren darstellte, zeigt sich in einem Satz des konservativen Publizisten Paul Sethe. 1965 schrieb Sethe in einem Leserbrief an den „Spiegel“, Pressefreiheit sei: „Die Freiheit von 200 reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten.“
Massenkommunikationsmittel in der Verfügungsgewalt ihrer Eigentümer: Im Falle öffentlich-rechtlicher Medien waren – und sind – dies nicht privatwirtschaftlich orientierte Medienunternehmer. Gleichwohl ist auch hier der Zugang zu Produktionsmitteln und Programmentscheidungen den Befugten vorbehalten. Gatekeeper entscheiden, das Publikum kann nur hoffen, dass Entscheidungen in seinem Interesse getroffen werden. Tatsächliche Mitgestaltungsmöglichkeiten sind nach wie vor rar. Daran ändern auch Town-Hall-Formate und Call-in-Sendungen wenig.
Das Manko der Einbahnstraßenkommunikation in den Massenmedien haben Medientheoretiker von Walter Benjamin bis Marshall McLuhan benannt, am deutlichsten vielleicht Bertolt Brecht 1932: „Der Rundfunk wäre der denkbar großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens…wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen.“
Die Brecht’sche Utopie ist heute technische Möglichkeit. Digitale Kommunikationstechnologie und Internet geben jedem, der das möchte, die Möglichkeit, nicht nur Empfänger, sondern Sender zu sein. Dies sagt noch überhaupt nichts darüber, wie sie von wem zu welchen Zwecken genutzt wird. Das Netz ermöglicht Abkapselung in Wahrnehmungsnischen, die propagandistisch ausstaffiert werden und ungebremsten Hass produzieren, wo zivilisatorische Hemmnisse im diskursiven Vakuum diffundieren und verbale Gewalt vielleicht ungehemmt in physische Gewalt mündet. Das Netz ermöglicht aber auch das genaue Gegenteil: Überwindung von Wissens- und Informationsbarrieren, Schaffung von humaner Gegenöffentlichkeit, Überwindung gesellschaftlicher Atomisierung durch die Möglichkeiten individuell aktiv nutzbarer Technologie.
Oskar Negt sagte in einem für diesen Beitrag geführten Gespräch: „Wir hatten damals natürlich keinerlei Vorstellung davon, was heute kommunikationstechnisch möglich sein würde. Was gewachsen ist, seit Habermas` Überlegungen oder auch unseren, ist eine ungeheure Ambivalenz dieser Möglichkeiten.“
Dass 15 Millionen Menschen innerhalb weniger Tage das Rezo-Video angeklickt haben, macht mit einem Schlag klar: Medienproduktion und -rezeption im Internet ist kein Nischenphänomen mehr. Etablierte Medien und etablierter Politikbetrieb können sich in keiner Weise mehr darauf verlassen, dass sie den Diskurs bestimmen. Die spürbare Verunsicherung in Parteizentralen wie in Medienchefetagen ist ein deutliches Indiz dafür, wie wenig man vorbereitet war auf das, was sich in dieser eigenartigen Netzwelt entwickelt hatte.
Bedeutet die offenbar gewordene Verschiebung einer politischen Diskursplattform aus gemutmaßten Digitalnischen auf das Spielfeld der Mehrheitsgesellschaft eine neue Etappe im „Funktionswandel der Öffentlichkeit“? Der politische Soziologe Oskar Negt will sich nicht festlegen: „Öffentlichkeit ist mehr als öffentliche Meinungsäußerung. Öffentlichkeit bedeutet auch konkretes politisches Handeln, und zwar nicht nur innerhalb von politischen Institutionen. Öffentlichkeit braucht außerparlamentarische, zivilgesellschaftliche Akteure.“
Wer will, kann im Spannungsfeld zwischen Rezos 15 Millionen und den „Fridays for Future“-Demonstrationen Vorboten und Akteure einer neuen, auch kulturell definierten Öffentlichkeit erkennen.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 07-08/2019.