Meinungsfrei in der Türkei

Journalisten bewegen sich mit ihrer Berichterstattung auf einem sehr schmalen Grat

Um viertel vor drei klingelt das Telefon. Ich nehme ab. Eine männliche Stimme redet auf Türkisch schnell auf mich ein. In der Annahme, es handle sich um ein Missverständnis, erkläre ich: „Nein, das ist nicht das deutsche Generalkonsulat in Istanbul, es ist das ARD-Büro.“ Der Mann legt auf. Fünf Minuten später klingelt das Telefon erneut. Eine Frau ist dran. Sie spricht akzentfrei Deutsch. Wir kommen, sagt sie, „wir kommen zu Ihnen.“ Ich frage, wer warum kommen will. Sie sagt: „Wir kommen, um gegen Sie zu demonstrieren.“ Verblüfft antworte ich, dass es ihr gutes und in der Verfassung verbrieftes Recht sei, zu demonstrieren. „Aber warum gegen mich“, will ich wissen. „Sie haben unseren Präsidenten beleidigt“, führt sie aus, „deshalb werden wir vor Ihrem Büro gegen Sie demonstrieren.“

 

Das ARD-Hörfunkbüro liegt damals am Ende einer Sackgasse im Istanbuler Stadtteil Levazım. Wer sollte sich dahin verirren, um gegen mich zu demonstrieren? In der festen Annahme, dass es sich um eine Verwechslung handelt, gehe ich für eine Live-Aufnahme ins Studio. Um kurz nach drei höre ich ein Megafon. Slogans werden gerufen, Pfiffe, Trillerpfeifen, Klatschen und Buhrufe. Ich schaue aus dem Fenster. 70 bis 80 Menschen stehen vor dem Studio auf der Straße. Sie tragen Transparente. Auf einem steht: Deutschland, vergiss Deine Vergangenheit nicht. Auf einem anderen: Wir lieben Erdoğan. Wenn der Redner meinen Namen nennt, buht die Menge. Fotografen schießen Fotos, Kameramänner nehmen alles auf. Der Spuk dauert gut zehn Minuten. Dann rücken die Demonstranten ab. Ihr nächstes Ziele, so entnehme ich am nächsten Tag einer Zeitung, sind die Nachrichtenagentur Reuters sowie das britische Magazin „Economist“.

 

Beykozlu Gençler – Jugend von Beykoz, so nannten sich die Demonstranten. Es handelte sich dabei um eine der Regierungspartei AKP nahestehende Jugendorganisation. Die Demonstrationen vor internationalen Pressevertretern fanden am 29. März 2014 einen Tag vor den Kommunalwahlen statt. Sie sollten einschüchtern. Sie sollten verunsichern. Was war mein vermeintliches Vergehen gewesen? Ich hatte kurz zuvor einen Bericht abgesetzt, über die Wahlkampfauftritte von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan, bei denen er seine Stimme verloren hatte. Er hatte sich bei seinen vielen Wahlkampfauftritten derart verausgabt, dass er nur noch krächzen und mit hoher Micky-Maus-Stimme reden konnte. In dem Beitrag mit dem Titel „Erdoğan auf Stimmenfang“ ging es darum, dass es bei dieser Wahl laut Erdoğan auf jede Stimme ankomme und dass der – nunmehr quasi stimmlose – Regierungschef den Ton für die Stimmabgabe angebe. In einem Kommentar vor dem Urnengang hatte ich mich zudem kritisch mit der Presse- und Meinungsfreiheit in der Türkei auseinandergesetzt. Damit hatte ich zwar von meinem Recht der freien Meinungsäußerung Gebrauch gemacht, nach Meinung der Demonstranten aber den Partei- und Regierungschef beleidigt.

 

Was folgte? Ich war von dieser (Macht)Demonstration vor meinem Studio beeindruckt. Ich änderte den Namen an meiner Türklingel, weil ich mit unerwünschtem Besuch rechnen musste. Aus Reinhard Baumgarten wurde auf dem Klingelschild Arda Lan. Ich hielt Vorsicht für geboten, weil es in den Wochen und Monaten zuvor im Nachklang der Gezi-Proteste des Frühsommers 2013 verbale und körperliche Angriffe auf Journalisten gegeben hatte. Die Stimmung gegen Medienvertreter wurde zunehmend feindlicher. Es wurde im Laufe der Jahre immer schwieriger, kompetente Gesprächspartner aus Gesellschaft, Wirtschaft und Lehre zu finden. Im August 2014 wurde aus Regierungschef Erdoğan Staatspräsident Erdoğan. Im Juni 2015 verlor seine AKP bei der Parlamentswahl die absolute Mehrheit der Sitze. Die Bildung einer Koalitionsregierung scheiterte am Widerstand Erdoğans. Er setzte Neuwahlen an, die in einem Klima von Einschüchterung und Gewalt stattfanden. Denn inzwischen hatten sowohl Ankara als auch die PKK erklärt, den zwei Jahre zuvor verabredeten Waffenstillstand nicht mehr einhalten zu wollen.

 

Artikel 26 der türkischen Verfassung garantiert Presse- und Meinungsfreiheit. Die Türkei gehört zu den Ländern mit den meisten eingekerkerten Journalisten. Staats- und Parteichef Erdoğan weist Kritik daran mit dem Hinweis zurück, niemand sitze wegen journalistischer Arbeit im Gefängnis, sondern wegen anderer Delikte. Tatsächlich laufen in der Türkei Tausende Verfahren wegen angeblicher Präsidentenbeleidigung. Betroffen sind neben professionellen Journalisten sehr vieler Menschen, die sich in den sozialen Medien kritisch über den Präsidenten geäußert haben.

 

Nach dem Putsch vom Sommer 2016 galt zwei Jahre der Ausnahmezustand. Journalisten bewegten sich mit ihrer Berichterstattung damals auf einem sehr schmalen Grat. Viele, die kritisch hinterfragten oder berichteten, wurden der Terrorunterstützung geziehen. Aus deutscher Sicht war Deniz Yücel der prominenteste Fall. Ausländische Berichterstatter wie ich mögen sich angesichts der sich permanent verschlechternden Lage unsicher und unwohl gefühlt haben. Gemessen an der teils brutalen Willkür, mit der türkische und vor allem kurdische Journalisten konfrontiert waren und sind, war mein Los als Berichterstatter in der Türkei sehr erträglich.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 07-08/2019.

Reinhard Baumgarten
Reinhard Baumgarten ist Redakteur bei SWR Ausland und Europa. Er war bis 2018 Hörfunkkorrespondent der ARD für die Türkei, Griechenland und den Iran.
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