Lina Braun und die europäischen Momente der deutsch-jüdischen Geschichte

Geschichte und Kultur jenseits des Nationalen verstehen

Nach Kriegsende lebte in Deutschland eine verschwindend kleine Zahl Juden, zwischen 10.000 und 15.000 Überlebende und Zurückgekehrte aus dem Exil machten diese frühe neue jüdische Gemeinschaft aus, zusammen mit den Displaced Persons zählten die westdeutschen jüdischen Gemeinden zunächst etwa 25.000 Mitglieder – bis in die 1980er Jahre wuchs die Zahl auf rund 35.000 an. In Ostdeutschland registrierten sich von den zunächst 4.500 Jüdinnen und Juden lange nicht alle als Gemeindemitglieder. Nach der Wende kamen bis zu 200.000 Jüdinnen und Juden als sogenannte Kontingentflüchtlinge aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland und verhalfen den jüdischen Gemeinden zu einem unverhofften Mitgliederzuwachs, von denen etwa die Hälfte in den Gemeinden verblieben sind. Während der Jüdische Weltkongress noch 1948 den „Bann“ über Deutschland aussprach, leben 70 Jahre später wieder rund 100.000 Juden in Deutschland. Für einige Zeit galt Deutschland gar als das einzige europäische Land, in dem die jüdische Gemeinschaft wieder anwuchs. Denn die Zahl der Jüdinnen und Juden in Europa geht kontinuierlich zurück, was sowohl an Migrationsbewegungen liegt, aber auch an einer starken Überalterung der jüdischen Gemeinschaft, womit sich die unmittelbare Nachkriegssituation nach der Shoah bis in unsere Gegenwart fortsetzt. Von etwa 3,2 Millionen in den 1970er Jahren verringerte sich die Zahl der Jüdinnen und Juden in Europa heute auf etwa eine Million. Und doch ist Europa und somit auch Deutschland gerade auch wegen des EU-Passes für viele Nachfahren ausgebürgerter, ehemalig deutscher Juden attraktiv. Und seit 2015 können Nachkommen von iberischen Juden, die nach 1497 des Landes verwiesen wurden, einen portugiesischen oder spanischen Pass beantragen und so automatisch EU-Bürger werden. Eine Studie hat gezeigt, dass Jüdinnen und Juden sich der Europäischen Union überdurchschnittlich stark verbunden fühlen. Auch aus dieser pragmatischen Haltung der jüngeren Generation entsteht die ungeahnte Vielfalt jüdischen Lebens in Europa: So gibt es etwa die Europäische Makkabiade, die 2019 der antisemitischen Politik Viktor Orbans zum Trotz in Ungarn ausgetragen wurde, ein Jüdisches Kultur- und Klezmer-Festival in Krakau und akademische Netzwerke wie die European Association of Jewish Studies. Und auf dem Israel am nächsten liegenden, südöstlichsten Zipfel Europas, auf Zypern, betreten jährlich Tausende Israelis den griechischen Teil der Insel, weil sie dem Zwang zur religiösen Eheschließung in Israel entgehen wollen.

 

Jüdische Kultur, Wissenschaft, schlicht jüdische Gegenwart findet also heute ebenso wie in der Vergangenheit im internationalen Austausch statt und ist weiterhin von Mobilität und nun vorwiegend freiwilligen Migrationsbewegungen geprägt. Diese Europäisierung der jüdischen Gemeinschaft lädt dazu ein, nicht nur auf die jüdische Geschichte innerhalb Deutschlands zu schauen, sondern auch den Blick aus Deutschland heraus zu lenken – vielleicht auch gerade, um die deutsch-jüdische Geschichte besser zu verstehen. Ein Beispiel kann dafür die deutsch-jüdische Diaspora sein: Die Vertreibung der Juden aus Deutschland führte zur Entstehung neuer Zentren jüdischen Lebens, die bis heute Bestand haben. Bedeutende Institutionen zur Erforschung und Bewahrung deutsch-jüdischer Geschichte entstanden in der Folge außerhalb Deutschlands. Das Jeckes-Museum in Tefen, Israel, das gerade akut in seinem Fortbestand bedroht ist und private Nachlässe zahlreicher Flüchtlinge aus Deutschland bewahrt, ist nur ein Beispiel davon. Die Leo Baeck Institute (LBI) in Jerusalem, London und New York bestehen seit 1955 als zentrale Forschungseinrichtungen der von Emigranten betriebenen deutsch-jüdischen Geschichte, in Deutschland werden sie durch die Wissenschaftliche Arbeitsgemeinschaft der Leo Baeck Institute (WAG) vertreten. Gerade durch die transterritoriale Perspektive, die eine deutsch-jüdische Geschichte außerhalb Deutschlands bedingt, können neue Facetten der jüdischen Geschichte aufgezeigt werden. Denn die als Jeckes bezeichneten deutschen Juden in Israel, die aus Deutschland geflohenen Juden in Washington Heights/New York, die deutschen Juden in Südamerika – sie alle nahmen nicht nur einen Teil ihrer „deutschen“ Kultur mit, sondern bewahrten den zunehmend imaginärer werdenden Bezug zur ehemaligen Heimat. Zugespitzt formuliert, lässt sich selbst eine sehr deutsche Geschichte, namentlich die einer beispielsweise Alt-Heidelberger jüdischen Studentenverbindung, nicht schreiben, ohne Archive weit jenseits der Grenzen Badens aufsuchen zu müssen. Diese Freude an der Grenzüberschreitung, die sowohl für die Erforschung jüdischer Geschichte als auch für das Verständnis der jüdischen Gegenwart unerlässlich ist, macht die Beschäftigung mit jüdischer Kultur gerade jenseits des Nationalstaats so anregend. Sie sollte uns zugleich dazu anregen, Betrachtungen jenseits der großen Linien anzustellen – und vielleicht bei aller Ehrerbietung gegenüber Hannah Arendt und Moses Mendelssohn, doch aus diesem Jahr eher den Anstoß mitzunehmen, sich den jüdischen „Lieschen Müllers“ anzunehmen. Wenn dieses Festjahr also dazu dienen soll, jüdisches Leben begeistert zu umarmen, so wäre es doch ein Gewinn, es in seiner ganzen Bandbreite zu betrachten. Und dazu gehören dann auch – in Anlehnung an das Bonmot der ehemaligen israelischen Ministerpräsidentin Golda Meir „Wir werden erst eine Nation sein, wenn es jüdische Prostituierte und jüdische Polizisten gibt“ – Untersuchungen über galizische Mädchenhändler ebenso wie Filme über jüdische Kleinkriminelle. Für die Suche nach den historischen Spuren der unbekannten Lina Braun wiederum empfiehlt sich ein Gang in die Archive, beispielsweise in der erhaltenswerten Sammlung von Tefen, das bei gesicherter Finanzierung Teil der Universität Haifa werden könnte.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 4/2021.

Miriam Rürup
Miriam Rürup ist Direktorin des Moses Mendelssohn Zentrums für europäisch-jüdische Studien und Vorsitzende der Wissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft des Leo Baeck Instituts in der Bundesrepublik.
Vorheriger ArtikelEin nie abgeschlossener Weg
Nächster ArtikelJüdische Kultur in Deutschland