Lina Braun und die europäischen Momente der deutsch-jüdischen Geschichte

Geschichte und Kultur jenseits des Nationalen verstehen

In Quellen wie etwa einem Ersttagsstempel, mit dem die seit dem 4. Februar erhältliche Briefmarke zum Festjahr „1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ veröffentlicht wurde, bündeln sich wie unter einem Brennglas die gesamten Assoziationen zur deutsch-jüdischen Kultur und Geschichte. Und so erfreulich die Idee eines ganzen Jahres voller Veranstaltungen zu jüdischer Vergangenheit und Gegenwart doch ist, so nachdenklich stimmt just die hier getroffene, doch so erwartbare Auswahl: Unter den neun Motiven finden sich – neben dem das Festjahr begründenden Codex Theodosianus, der das Edikt von 321 enthält – zwei religiöse Bezüge (Menora und Chanukka), eine ursprünglich jiddische Redewendung (Tacheles reden), ein Synagogenneubau (Mainz), die Einsteinsche Relativitätsformel (E=mc2) und drei herausragende Persönlichkeiten. Kein Zweifel: Hannah Arendt, Moses Mendelssohn und Kurt Weill, ebenso wie der Urheber der Relativitätstheorie Albert Einstein sind Geistesgrößen, deren Bedeutung gar nicht hoch genug geschätzt werden kann. Doch Bedeutung wofür? Schließlich ließe sich mit historisch langer Perspektive durchaus fragen, was wohl Einstein davon gehalten hätte, seine Formel als zentrales Motiv für ein Festjahr zu jüdischem Leben in Deutschland und damit als jüdischen Beitrag zur deutschen Geschichte eingeordnet zu sehen – ausgerechnet in dem Land, das ihm die stolze selbst gewählte Niederlegung seiner Staatsangehörigkeit 1933 verweigerte, nur um ihn ein Jahr darauf ausbürgern zu können. Und auch Arendt und Weill konnten ihr Leben nur durch die Flucht aus Deutschland retten, Mendelssohns Werke gingen in den NS-Bücherverbrennungen in Rauch auf. Doch viel denkwürdiger an dieser Zusammenstellung ist die sicher unfreiwillige Neuauflage der bekannten „Beitragsgeschichte“, als sei jüdische Geschichte erst relevant, wenn wir alle Arendts und Einsteins wären; sowie das wohlwollende Bemühen darum, zumindest symbolisch ein 1.700 Jahre währendes deutsch-jüdisches Miteinander zu suggerieren, das doch zugleich wie ein sanftes Echo auf das auffälligerweise seit der Flüchtlingswelle aus Syrien im Jahr 2015 mehrfach als Abwehrreflex formulierte „christlich-jüdische Abendland“ nachhallt.

 

Nun sollen damit nicht die Chancen eines solchen Festjahres infrage gestellt werden – ganz im Gegenteil. Ich möchte dazu anregen, die deutsch-jüdische Nische ein wenig zu verlassen und damit einige der uns vertrauten Grundannahmen zu hinterfragen. Schauen wir also schlaglichtartig und polemisch vereinfachend auf die europäischen Momente der deutsch-jüdischen Geschichte: Es war ein römischer Kaiser, der Juden erstmals 321 die Ausübung eines Stadtbürgerrechts ermöglichte. Etwa 1.500 Jahre später war es die „Franzosenzeit“, während der Juden in den französisch besetzten Provinzen des Deutschen Reiches erstmals in den Genuss gleicher Rechte kamen. Es war die französische Dreyfus-Affäre, die den österreichischen Juden Theodor Herzl darin bestärkte, seine Theorie des politischen Zionismus auszuarbeiten. Und es waren die Alliierten, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges den Displaced Persons in den deutschen Besatzungszonen Unterkunft gaben und damit – wenngleich unbeabsichtigt – die Grundlage für einen Neuanfang jüdischen Lebens in Deutschland nach der Shoah schufen.

 

Diese polemisch zugespitzte Hinführung soll verdeutlichen: Deutsch-jüdische Geschichte und Kultur konnte und kann nur jenseits des nationalen Containers verstanden werden. Dies zeigte sich genauso in traumatischen Erfahrungen wie den mittelalterlichen christlichen Kreuzzügen, die für die europäischen Juden mit Gewalt und Vertreibung einhergingen wie auch in der Vertreibung der fortan als sephardische Juden bezeichneten Conversos von der iberischen Halbinsel im 15./16. Jahrhundert. Ebenso deutlich ist dies aber auch in der Entwicklung der SchUM-Städte – die Bezeichnung ist ein hebräisches Akronym für Speyer, Worms, Mainz, für die stellvertretend Mainz auf dem Ersttagsstempel verewigt ist, die zu einem europäischen Zentrum der aschkenasischen jüdischen Gelehrsamkeit wurden, oder in Hamburg, das auch durch die Ansiedlung der sephardischen Juden in Altona seinen Standort als europäische Hafenstadt und Handelsmetropole ab dem 17. Jahrhundert signifikant ausbauen konnte. Und es zeigt sich, um erneut einen großen Sprung zu machen, in der Wiederentstehung jüdischen Lebens in Deutschland nach 1945: Die Displaced Persons, die die Grundlage der ersten jüdischen Gemeinden der Nachkriegszeit bildeten, kamen vorwiegend aus ost- und mitteleuropäischen Ländern und zwei Generationen später waren es erneut osteuropäische Zuwandererinnen und Zuwanderer, die der jüdischen Gemeinschaft im Deutschland nach der Wende zu nicht nur zahlenmäßig, sondern auch religiös und kulturell ganz neuer Vielfalt und Wiederbelebung verhalfen.

 

Wenn wir heute also von transnationaler jüdischer Existenz und Gegenwart sprechen und der daraus folgenden Vielfalt, dann ist das gewissermaßen die positive Wendung der historischen Erfahrungen der jüdischen Geschichte, die von regelmäßigen Vertreibungen sowie Migrationsbewegungen geprägt war. Das jüdische Selbstverständnis im Deutschland der Gegenwart ist deutlich vielfältiger geworden. Hinzu gekommen sind nicht nur osteuropäische jüdische Einwanderer, sondern auch junge Israelis, die vor allem die urbane Kultur prägen, längst gibt es jenseits der orthodox geprägten sogenannten Einheitsgemeinden auch wieder liberale und Reformgemeinden. Und es wird ein neues säkulares jüdisches Selbstverständnis in Deutschland wahrnehmbar, das sich nicht mehr als jüdisch im religiösen, sondern eher im kulturellen Sinne begreift.

Miriam Rürup
Miriam Rürup ist Direktorin des Moses Mendelssohn Zentrums für europäisch-jüdische Studien und Vorsitzende der Wissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft des Leo Baeck Instituts in der Bundesrepublik.
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