„Integration bedarf einer Generation“

Josef Schuster im Gespräch

Bemerkenswerterweise bietet genau dieser Hintergrund den Rahmen für einen preisgekrönten Film junger jüdischer Filmemacher: „Masel Tov Cocktail“. Der in Deutschland aufgewachsene Sohn einer russisch-jüdischen Familie wird konfrontiert und konfrontiert uns mit all den Ungeklärtheiten und Brüchen der deutschen Gesellschaft mit dem Judentum. Der Film tut das in einer grandiosen Mischung aus Schärfe und Leichtigkeit, Aufklärung und Witz. Jenseits aller Stereotype und Klischees. Kulturelle Wandlungen als Anlass für einen neuen Blick?

Definitiv ist das so. Der Film zeigt sehr treffend und humorvoll, wie derjenige, der als Kind nach Deutschland zugewandert ist, das alles wahrnimmt. Er bringt den typischen Blickwinkel jüdischer Zuwandererfamilien mit, der sich vom deutsch-jüdischen Blickwinkel unterscheidet. Daher sieht er manche Dinge anders und stellt andere Fragen. Das ist sehr erfrischend.

 

Als wir vor drei Jahren bei anderer Gelegenheit miteinander sprachen, waren sie beunruhigt durch zunehmende antijüdische Aggressionen in Deutschland – wie ist die Entwicklung seitdem?

Die Entwicklung der letzten drei Jahre würde ich nicht positiv werten. Allein die drei Vorfälle: Die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, das Attentat an Jom Kippur in Halle, aber auch die Ereignisse in Hanau im Februar letzten Jahres haben klar gezeigt, dass auf der rechtsextremen Seite ein Gewaltpotenzial entstanden ist, das sich gegen Minderheiten oder Politiker, die sich für Minderheiten einsetzen, richtet. Und auch ganz gezielt gegen jüdische Menschen und jüdische Einrichtungen.

 

Die Corona-Pandemie und die restriktiven Gegenmaßnahmen führen auch zu gesellschaftlichen Polarisierungen, Spaltungsrisse gehen durch Familien, Freundeskreise, soziale Gemeinschaften. Sie als Arzt erleben das vielleicht auch noch in besonderer Weise. Was bedeuten diese Polarisierungen für die jüdische Bevölkerung Deutschlands? Gehen solche Risse durch sie gleichermaßen hindurch, oder wendet sich wachsende Aggression auch wiederum gezielt gegen sie?

Das Hauptproblem, das ich aus unserer Perspektive im Zusammenhang mit der Coronakrise sehe, ist zum einen, dass unser Gemeindeleben im Grunde nicht mehr stattfinden kann. Mehr Sorge bereitet mir jedoch der durch die Pandemie wachsende Antisemitismus: Immer wenn ein Phänomen auftaucht, das vielen Menschen unerklärlich ist, wird Minderheiten die Schuld zugeschoben. Das war schon im Mittelalter so. Als die Pest ausbrach, wurden Synagogen zerstört, gab es Pogrome gegen Juden. Auch jetzt werden Juden als Schuldige für die gesamte Corona-Problematik dargestellt. Das findet sich auf den Demos wieder, noch stärker aber im Netz. Dort kursieren zuhauf antisemitische Verschwörungsmythen. Was mich bestürzt, ist, dass bei diesen Corona-Demonstrationen Rechtsradikale genau das ausnutzen, um gegen Minderheiten zu hetzen.

 

Spielt es für die jüdische Gemeinschaft in Deutschland eine Rolle, dass Israel gerade besondere Aufmerksamkeit findet, weil das Corona-Impfregime dort zügiger funktioniert als in Deutschland?

Israel erhält gerade zu Recht sehr viel Anerkennung für seine erfolgreiche Impfkampagne. In den sozialen Netzwerken finden sich allerdings auch Äußerungen, die auf nicht mehr rationale Weise, also auch mit klar antisemitischen Vorurteilen, auf diese Erfolge, die Israel hier hat, reagieren.

 

Es wird allerdings auch kritisiert, dass Israel Impfstoffe exportiert, aber die palästinensische Bevölkerung in Gaza und auf der besetzten Westbank, für die eine Fürsorgepflicht besteht, nur unzureichend mit Impfstoffen versorgt wird. Besorgt Sie das, auch als Mediziner?

Israel hat längst damit begonnen, Palästinenser mit Impfstoff zu versorgen bzw. zu impfen. Man muss aber leider konstatieren, dass die palästinensische Autonomiebehörde mit ihrer Impfstrategie ziemlich versagt hat. Das sehen auch viele Palästinenser selbst so. In Gaza hat Israel zudem keine Fürsorgepflicht. Ob diese Pflicht für das Westjordanland besteht, darüber gibt es sehr unterschiedliche Ansichten. Ein Export von Impfstoffen seitens Israel in einem nennenswerten Umfang ist mir nicht bekannt.

 

Wir führen dieses Gespräch am Tag, nachdem die Buber-Rosenzweig-Medaille an den Leiter der Oberammergauer Passionsfestspiele, Christian Stückl, verliehen wurde. Gewiss freut es Sie, dass Menschen sich für christlich-jüdische Zusammenarbeit engagieren – wäre es aber nicht eigentlich gut, wenn es solch besonderer Auszeichnungen gar nicht mehr bedürfte, weil es eine Selbstverständlichkeit wäre?

Der Dialog zwischen den Religionen bleibt immer wichtig – daher ist es auch richtig, solche Auszeichnungen zu verleihen. Wir wissen – und da schätze ich die Selbstkritik der christlichen Kirchen – dass über Jahrhunderte von den Kanzeln beider großer christlicher Kirchen auch Judenfeindlichkeit und Antisemitismus gepredigt wurde.

Das fand sich auch in den älteren Konzepten der Oberammergauer Passionsfestspiele wieder. Dass diese Texte sehr konkret überarbeitet wurden, ist sicher herausragend im Sinne eines künftigen friedvollen Miteinanders.

 

Zum Abschluss: Sie sind seit 2014 Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland. Haben sich in diesem nicht geringen Zeitraum Ihre Arbeitsschwerpunkte und die Bedingungen verschoben? 

Was mich aktuell sehr freut, ist das Festjahr „1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“. Dadurch wird jüdisches Leben in der Öffentlichkeit nicht vorrangig im Zusammenhang mit der Shoah gezeigt, sondern es wird bewusst, dass jüdisches Leben seit Jahrhunderten in Deutschland existiert.

Wenn ich mir das politische Umfeld insgesamt anschaue, erkenne ich eine Radikalisierung, die ich vor allem auf die AfD zurückführe. Hier ist ein raueres gesellschaftliches Klima entstanden. Was mir in meinem Amt viel Freude macht, sind neue Projekte des Zentralrates der Juden, darunter zwei Begegnungsprojekte: Bei „Schalom Aleikum“ bringen wir Juden und Muslime zusammen, bei „Meet a Jew“ vermitteln wir für Schulklassen und Vereine Gespräche mit jungen Juden, die von ihrem jüdischen Alltag berichten. Daneben erweitern wir unsere Unterstützung für die Gemeinden, um neue Mitglieder zu gewinnen. Auch das liegt mir sehr am Herzen.

 

Vielen Dank.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 4/2021.

Josef Schuster & Hans Jessen
Josef Schuster ist Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland. Hans Jessen ist freier Journalist und ehemaliger ARD-Hauptstadtkorrespondent.
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