„Integration bedarf einer Generation“

Josef Schuster im Gespräch

Hans Jessen spricht mit dem Präsidenten des Zentralrates der Juden in Deutschland über die Vielschichtigkeit jüdischen Lebens, interreligiösen Dialog, Antisemitismus in der Bundesrepublik und anderes mehr.

 

Hans Jessen: Herr Schuster, wenn ich Sie bitte, die Bandbreite aktuellen jüdischen Lebens in Deutschland zu schildern – was fällt Ihnen spontan ein?

Josef Schuster: Spontan? – Zwei Punkte: Zum einen die unterschiedlichen Generationen: Sie finden in unseren Gemeinden jüdische Kindertagesstätten, Schulen und Jugendzentren. Es gibt zudem viele Aktivitäten für junge Familien und auch für Senioren. Also Mitglieder des gesamten Altersspektrums finden in den Gemeinden ein zweites Zuhause.

Das Zweite, was mir spontan einfällt, ist die Frage der religiösen Orientierung der jüdischen Gemeinden. Die jüdischen Gemeinden in Deutschland waren nach der Shoah, vor allem weil viele Menschen aus Osteuropa sich in Deutschland wiederfanden, traditionell ausgerichtet.

Bei der geringen Zahl von Juden in Deutschland war es dann einfach pragmatisch, in den einzelnen Städten Einheitsgemeinden zu haben. Also eine Gemeinde, die für alle passend ist. Die jüdische Gemeinde in meiner Heimatstadt Würzburg ist z. B. traditionell. Das heißt, in den Räumen der Gemeinde werden alle Gebote und Verbote des Judentums strikt beachtet, es gibt eine streng koschere Küche. Das beste Beispiel für eine Einheitsgemeinde ist Frankfurt am Main. In der Westend-Synagoge werden unter einem Dach sowohl orthodoxe als auch liberale Gottesdienste abgehalten. Und dieses Dach hält. Mit der Zuwanderung von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion seit 1990 wuchsen unsere Gemeinden,
sodass es jetzt auch Städte gibt, in
denen es sowohl traditionelle als auch liberale Gemeinden gibt, z. B. in Köln und in Hannover.

 

Die in Deutschland lebende jüdische Bevölkerung wird mit rund 225.000 Menschen angegeben, weniger als die Hälfte davon ist in jüdischen Gemeinden zusammengeschlossen: 94.000 – diese Zahl ist seit Jahren rückläufig. Heißt dies, dass die religiöse Dimension jüdischen Lebens in der Bedeutung abnimmt, während ethnische und kulturelle Aspekte und Ausdrucksformen an Bedeutung gewinnen?

Das würde ich so nicht interpretieren. Die Frage ist: Wie kommen diese Zahlen zustande? Für die Zahl der in Deutschland lebenden Juden gibt es nur Schätzungen. Wir schätzen diese Zahl deutlich niedriger, nämlich auf 150.000. 1990 begann die Einwanderung von sogenannten jüdischen Kontingentflüchtlingen nach Deutschland. In dieser Zahl sind aber auch nichtjüdische Familienangehörige eingerechnet. Wenn also z. B. ein jüdischer Mann mit seiner nichtjüdischen Frau und drei – nach dem jüdischen Religionsgesetz – nichtjüdischen Kindern kam, dann sind fünf Menschen als jüdische Kontingentflüchtlinge eingereist, aber nur einer konnte Mitglied einer jüdischen Gemeinde werden. Die Einreise der gesamten Familie war auch berechtigt, denn sie waren alle im Herkunftsland Diskriminierungen ausgesetzt.

Wir müssen davon ausgehen, dass von den Eingereisten nach jüdischem Religionsgesetz ungefähr 120.000 tatsächlich Juden waren. Hinzu kommt der demografische Wandel, der vor jüdischen Gemeinden ebenso wenig Halt macht wie vor christlichen Gemeinden. Und es gibt auch jüdische Menschen, die sich keiner Gemeinde anschließen. In Berlin z. B. gibt es viele junge Israelis, die ich als säkular einstufen würde, geschätzt könnten das 5.000 bis 10.000 sein. Eine Abkehr von der Religion ist damit meiner Meinung nach aber nicht gegeben.

 

Sie haben es schon angesprochen: In den Jahren nach 1990 war die jüdische Gemeinschaft in Deutschland durch Zuwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion und anderen osteuropäischen Staaten geprägt. Da trafen dann auch unterschiedliche kulturell-religiöse Traditionen aufeinander. Existiert dieses Spannungsverhältnis nach wie vor, oder hat es sich entspannt?

Erstens: Es hat sich entspannt. Zweitens: Es waren keine religiösen Konflikte. Die Situation sah so aus: Ungefähr 25.000 bis 30.000 „Altmitglieder“ mussten oder wollten rund 120.000 Menschen in die Gemeinden integrieren. Darunter waren viele Menschen, die von ihrer eigenen Religion, vom Judentum, manchmal nur rudimentäre Kenntnisse hatten, weil man die jüdische Religion in der Sowjetunion nicht offen leben konnte. Die Menschen kamen mit einem völlig anderen kulturellen Hintergrund und trafen hier auf jüdische Gemeinden, die die Neuankömmlinge zunächst mal mit großen Augen anschauten. Dass es dabei mitunter zu menschlichen Konflikten kam, ist nicht erstaunlich.

Es hat sich der Satz bestätigt, dass Integration einer Generation bedarf – und da sind wir heute. Es gibt solche Konflikte kaum mehr. Die nächste Generation, also diejenigen, die in Deutschland aufwuchsen, sind zu 100 Prozent in die Gemeinden und in unsere Gesellschaft integriert.

Bemerkenswerterweise bietet genau dieser Hintergrund den Rahmen für einen preisgekrönten Film junger jüdischer Filmemacher: „Masel Tov Cocktail“. Der in Deutschland aufgewachsene Sohn einer russisch-jüdischen Familie wird konfrontiert und konfrontiert uns mit all den Ungeklärtheiten und Brüchen der deutschen Gesellschaft mit dem Judentum. Der Film tut das in einer grandiosen Mischung aus Schärfe und Leichtigkeit, Aufklärung und Witz. Jenseits aller Stereotype und Klischees. Kulturelle Wandlungen als Anlass für einen neuen Blick?

Definitiv ist das so. Der Film zeigt sehr treffend und humorvoll, wie derjenige, der als Kind nach Deutschland zugewandert ist, das alles wahrnimmt. Er bringt den typischen Blickwinkel jüdischer Zuwandererfamilien mit, der sich vom deutsch-jüdischen Blickwinkel unterscheidet. Daher sieht er manche Dinge anders und stellt andere Fragen. Das ist sehr erfrischend.

 

Als wir vor drei Jahren bei anderer Gelegenheit miteinander sprachen, waren sie beunruhigt durch zunehmende antijüdische Aggressionen in Deutschland – wie ist die Entwicklung seitdem?

Die Entwicklung der letzten drei Jahre würde ich nicht positiv werten. Allein die drei Vorfälle: Die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, das Attentat an Jom Kippur in Halle, aber auch die Ereignisse in Hanau im Februar letzten Jahres haben klar gezeigt, dass auf der rechtsextremen Seite ein Gewaltpotenzial entstanden ist, das sich gegen Minderheiten oder Politiker, die sich für Minderheiten einsetzen, richtet. Und auch ganz gezielt gegen jüdische Menschen und jüdische Einrichtungen.

 

Die Corona-Pandemie und die restriktiven Gegenmaßnahmen führen auch zu gesellschaftlichen Polarisierungen, Spaltungsrisse gehen durch Familien, Freundeskreise, soziale Gemeinschaften. Sie als Arzt erleben das vielleicht auch noch in besonderer Weise. Was bedeuten diese Polarisierungen für die jüdische Bevölkerung Deutschlands? Gehen solche Risse durch sie gleichermaßen hindurch, oder wendet sich wachsende Aggression auch wiederum gezielt gegen sie?

Das Hauptproblem, das ich aus unserer Perspektive im Zusammenhang mit der Coronakrise sehe, ist zum einen, dass unser Gemeindeleben im Grunde nicht mehr stattfinden kann. Mehr Sorge bereitet mir jedoch der durch die Pandemie wachsende Antisemitismus: Immer wenn ein Phänomen auftaucht, das vielen Menschen unerklärlich ist, wird Minderheiten die Schuld zugeschoben. Das war schon im Mittelalter so. Als die Pest ausbrach, wurden Synagogen zerstört, gab es Pogrome gegen Juden. Auch jetzt werden Juden als Schuldige für die gesamte Corona-Problematik dargestellt. Das findet sich auf den Demos wieder, noch stärker aber im Netz. Dort kursieren zuhauf antisemitische Verschwörungsmythen. Was mich bestürzt, ist, dass bei diesen Corona-Demonstrationen Rechtsradikale genau das ausnutzen, um gegen Minderheiten zu hetzen.

 

Spielt es für die jüdische Gemeinschaft in Deutschland eine Rolle, dass Israel gerade besondere Aufmerksamkeit findet, weil das Corona-Impfregime dort zügiger funktioniert als in Deutschland?

Israel erhält gerade zu Recht sehr viel Anerkennung für seine erfolgreiche Impfkampagne. In den sozialen Netzwerken finden sich allerdings auch Äußerungen, die auf nicht mehr rationale Weise, also auch mit klar antisemitischen Vorurteilen, auf diese Erfolge, die Israel hier hat, reagieren.

 

Es wird allerdings auch kritisiert, dass Israel Impfstoffe exportiert, aber die palästinensische Bevölkerung in Gaza und auf der besetzten Westbank, für die eine Fürsorgepflicht besteht, nur unzureichend mit Impfstoffen versorgt wird. Besorgt Sie das, auch als Mediziner?

Israel hat längst damit begonnen, Palästinenser mit Impfstoff zu versorgen bzw. zu impfen. Man muss aber leider konstatieren, dass die palästinensische Autonomiebehörde mit ihrer Impfstrategie ziemlich versagt hat. Das sehen auch viele Palästinenser selbst so. In Gaza hat Israel zudem keine Fürsorgepflicht. Ob diese Pflicht für das Westjordanland besteht, darüber gibt es sehr unterschiedliche Ansichten. Ein Export von Impfstoffen seitens Israel in einem nennenswerten Umfang ist mir nicht bekannt.

 

Wir führen dieses Gespräch am Tag, nachdem die Buber-Rosenzweig-Medaille an den Leiter der Oberammergauer Passionsfestspiele, Christian Stückl, verliehen wurde. Gewiss freut es Sie, dass Menschen sich für christlich-jüdische Zusammenarbeit engagieren – wäre es aber nicht eigentlich gut, wenn es solch besonderer Auszeichnungen gar nicht mehr bedürfte, weil es eine Selbstverständlichkeit wäre?

Der Dialog zwischen den Religionen bleibt immer wichtig – daher ist es auch richtig, solche Auszeichnungen zu verleihen. Wir wissen – und da schätze ich die Selbstkritik der christlichen Kirchen – dass über Jahrhunderte von den Kanzeln beider großer christlicher Kirchen auch Judenfeindlichkeit und Antisemitismus gepredigt wurde.

Das fand sich auch in den älteren Konzepten der Oberammergauer Passionsfestspiele wieder. Dass diese Texte sehr konkret überarbeitet wurden, ist sicher herausragend im Sinne eines künftigen friedvollen Miteinanders.

 

Zum Abschluss: Sie sind seit 2014 Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland. Haben sich in diesem nicht geringen Zeitraum Ihre Arbeitsschwerpunkte und die Bedingungen verschoben? 

Was mich aktuell sehr freut, ist das Festjahr „1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“. Dadurch wird jüdisches Leben in der Öffentlichkeit nicht vorrangig im Zusammenhang mit der Shoah gezeigt, sondern es wird bewusst, dass jüdisches Leben seit Jahrhunderten in Deutschland existiert.

Wenn ich mir das politische Umfeld insgesamt anschaue, erkenne ich eine Radikalisierung, die ich vor allem auf die AfD zurückführe. Hier ist ein raueres gesellschaftliches Klima entstanden. Was mir in meinem Amt viel Freude macht, sind neue Projekte des Zentralrates der Juden, darunter zwei Begegnungsprojekte: Bei „Schalom Aleikum“ bringen wir Juden und Muslime zusammen, bei „Meet a Jew“ vermitteln wir für Schulklassen und Vereine Gespräche mit jungen Juden, die von ihrem jüdischen Alltag berichten. Daneben erweitern wir unsere Unterstützung für die Gemeinden, um neue Mitglieder zu gewinnen. Auch das liegt mir sehr am Herzen.

 

Vielen Dank.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 4/2021.

Josef Schuster & Hans Jessen
Josef Schuster ist Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland. Hans Jessen ist freier Journalist und ehemaliger ARD-Hauptstadtkorrespondent.
Vorheriger Artikel„Bevor wir jüdisch oder Israelis sind, sind wir Zugewanderte“
Nächster ArtikelAlles andere als normal