Der Tradition verbunden – in der Moderne leben

Zur Gründung der Jüdischen Akademie in Frankfurt am Main

Aufgaben und Herausforderungen

 

Die Jüdische Akademie sieht ihre Aufgabe darin, die Kreativität, die Spannungen und Konflikte, die Chancen und Zukunftsaussichten der Gemeinschaft der Öffentlichkeit zu vermitteln, und will damit einen eigenen Beitrag zur Fortentwicklung des erneuerten Judentums in Deutschland und Europa leisten. Sie wird diesem Programm in vielfältigen Formaten nachgehen und dabei folgende Schwerpunkte behandeln:

  1. Das Judentum – eine lebendige Religion in Geschichte und Gegenwart
    Eine Vielfalt religiöser Strömungen und Liturgien von der Orthodoxie über das Reformjudentum bis zu chassidischen Gruppen formen das jüdische Leben weltweit. Jüdische Bildungsarbeit hat den Anspruch, die innerjüdische Pluralität zum Thema zu machen und eine Plattform anzubieten, die sich mit den Positionen und Traditionen der unterschiedlichen religiösen Strömungen des Judentums auseinandersetzt.
  1. Jüdische Lebenswelten – Pluralisierung und Eigensinn
    Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland ist in den letzten Jahrzehnten durch die Zuwanderung von Juden nach Deutschland zahlenmäßig enorm gewachsen. Juden aus unterschiedlichen Herkunftsländern und religiöser Traditionen prägen die jüdische Gemeinschaft. Der aktive Beitrag der Jüdischen Akademie bei der Präsentation und Entwicklung der jüdischen Pluralität besteht darin, Vertretern jüdischer Gruppen unterschiedlicher Altersgruppen sowie religiöser und kultureller Orientierungen ein Forum der Auseinandersetzung und Klärung der eigenen Identität sowie der kulturellen, politischen oder religiösen Orientierung zu bieten.
  1. Das Verhältnis zu Israel
    Die Verbindung zu dem Staat Israel ist für die meisten Juden sowie für die in Deutschland ansässigen jüdischen Institutionen zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Vor diesem Hintergrund sieht sich der jüdische Bildungsauftrag aufgefordert, die Pflege und Vertiefung bestehender Beziehungen mit israelischen Organisationen und Institutionen voranzutreiben. Dies trägt zu einer umfassenden Auseinandersetzung mit den Belangen und Interessen der israelischen Gesellschaft bei.
  1. Aufklärung über die Shoah
    Die Massenvernichtung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland und seine Kollaborateure ist noch nicht in allen wesentlichen Dimensionen erforscht. Eine Aufgabe jüdischer Bildungsarbeit ist es, neue substanzielle Ergebnisse historischer Forschung zur Debatte zu stellen.
    Sie wird auch an der für die politische Bildung Deutschlands entscheidenden Diskussion teilnehmen, wie die Geschichte des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen einer in Deutschland lebenden Jugend vermittelt werden kann.
  1. Erinnern und Gedenken in der deutschen Gesellschaft
    Das Erinnern und Gedenken an die Vernichtung der europäischen Juden während der Shoah hat sich in Deutschland durch den zeitlichen Abstand zum Nationalsozialismus verändert. Sowohl in der deutschen Gesellschaft als auch in der jüdischen Gemeinschaft werden neue Formen der Gedenkkultur entwickelt, die eine identitätsstiftende Bedeutung begründen. Aufgabe der Jüdischen Akademie ist es, den Prozess der Erinnerungspraxis zu begleiten und zu reflektieren, und somit rechtextremen und populistischen Versuchen, die Geschichte zu leugnen oder umzudeuten, entgegenzuwirken.
  1. Gefährdete Demokratie: Antisemitismus und Populismus
    Die Zunahme rechtspopulistischer und antisemitischer Parteien und Bewegungen in Deutschland und Europa stellt die antisemitismuskritische Bildungsarbeit vor neue Herausforderungen. Unter komplexen gesellschaftlichen Verhältnissen verbreiten sich häufig Verschwörungsmythen. Die Jüdische Akademie sieht ihre Aufgabe vor dem Hintergrund des wachsenden Einflusses gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit darin, die Bedeutung rechtsstaatlich verankerter demokratischer Strukturen und Institutionen und der ihnen zugrunde liegenden politischen Kultur beharrlich hervorzuheben.
  1. Ästhetik, Kunst, Film und Literatur
    Die Bandbreite jüdischen kulturellen Schaffens findet ihren Ausdruck in nahezu allen künstlerischen Bereichen der modernen Gesellschaft. Diese tragen dazu bei, einen Einblick in eine von Jüdinnen und Juden geführte ästhetische und literarische Auseinandersetzung mit ihrer Lebenswelt in Deutschland, Europa, den USA und Israel zu gewinnen. Ein jüdisches Bildungskonzept sieht vor, als Forum künstlerischer Werke aus der jüdischen Welt zu fungieren.
  1. Jüdische Philosophie und Ethik
    Die Lehren und Ideen des rabbinischen und talmudischen Judentums haben einen wesentlichen Beitrag zum modernen jüdischen Denken und seiner Kultur geleistet. Jüdische Philosophie und Ethik basieren auf diesem Denken und prägen zeitgenössische Diskurse und existenzielle Fragestellungen. Im Rahmen der Begleitung jüdischer Bildungsprozesse wird notwendigen sinn- und identitätsstiftenden Debatten Raum gegeben, um die Grundlagen jüdischen Denkens und Handelns innerhalb der jüdischen Gemeinschaft zu erweitern.
    Die Jüdische Akademie verspricht sich, mit diesen ausdifferenzierten und vielfältigen Orientierungsangeboten für die Mitglieder jüdischer Gemeinden einen Beitrag zur Stärkung der jüdischen Identität zu leisten und somit die Bedeutung der jüdischen Stimme innerhalb der pluralen deutschen Gesellschaft festigen zu können.
  1. Interreligiöse (Streit-)Gespräche
    Der christlich-jüdische Dialog hat in den letzten Jahrzehnten zu großen Fortschritten beim Abbau von Vorurteilen geführt. Die systematische Erforschung der Verantwortung der christlichen Theologie und der Kirchen für die Judenverfolgung ist Ausdruck eines veränderten Verständnisses christlicher Einstellungen gegenüber dem Judentum. Dennoch wird das Judentum in religiöser Hinsicht vor allem als Religion des Alten Testaments wahrgenommen. Dass es jedoch vornehmlich die Lehren und Ideen des rabbinischen, des talmudischen Judentums waren und sind, die einen wesentlichen Beitrag zum zeitgenössischen und modernen jüdischen Denken und seiner Kultur geleistet haben, wird weitgehend übersehen. Die Jüdische Akademie wird sich daher sowohl den historischen Wurzeln des christlichen Antijudaismus und des politischen Antisemitismus als auch dem rabbinischen Judentum als Basis moderner Philosophie intensiv widmen.

Mit dem Auf- und Ausbau eines spezifisch „jüdisch-islamischen“, theologisch und philosophisch geführten Dialogs wird die Jüdische Akademie einen neuen, eigenen Akzent setzen, um sowohl die historisch gewachsenen Unterschiede als auch die gemeinsamen Interessen als religiöse Minderheiten in Deutschland zu erkunden.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 4/2021.

Doron Kiesel
Doron Kiesel ist wissenschaftlicher Direktor der Bildungsabteilung des Zentralrats der Juden in Deutschland.
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