„Der innere Bruch, den Flüchtlinge verarbeiten müssen, wird oft nicht bedacht“

Dmitrij Kapitelman über Kontingentflüchtlinge, Integration und sein neues Buch

Was genau meinen Sie mit „verwelkt“?

Warum Einzelne innerhalb eines Umfeldes traurig werden, während andere prosperieren – das ist ganz individuell. Man muss aber beachten: Bei der Einwanderung verschwindet für Migrantinnen und Migranten jegliche Selbstverständlichkeit. Freundeskreis und Status gehen verloren, man startet als Niemand, ist in vielen Situationen unterlegen. Das sind tiefgreifende psychologische Momente, die bei vielen Menschen zu Rückzug führen. Bei meinem Vater etwa hatte ich das Gefühl, dass er unterschätzt hat, wie schwierig es ist, als Jude in Deutschland zu leben. Wir lebten in einer Gegend in Sachsen, in der es viele Neonazis gab. Rechte Propaganda war überall zu sehen in der Nachbarschaft, bis hin zu Neonazi-Partys im eigenen Haus. All das hat es meinem Vater kaum möglich gemacht, Deutschland richtig zu trauen.

Vielleicht wäre das anders gewesen, wären wir etwa nach Düsseldorf gegangen. Trotzdem: Jedes Mal, wenn ich ihm zeigen will: „Deutschland ist unser Freund“, taucht ein NSU-2.0-Skandal auf oder ein AfD-Wahlerfolg. Es ist schwierig, traumatisierten jüdischen Menschen ein sicheres Land zu versprechen, wenn die Gefahr immer wieder durchdringt.

 

Jüdischsein – der Begriff und das Thema kommen in Ihrem Buch kaum vor. Warum?

Ich wollte kein zweites Buch zum Thema „Jüdisches Leben in Deutschland“ schreiben. Wichtiger im aktuellen Buch ist die Frage: Wie kann es sein, dass die jüdischen Einwanderer in Deutschland so sehr um den deutschen Pass betteln müssen? Wann ist das politisch salonfähig geworden? Dabei geht es um alle Menschen, die längst Teil dieses Landes sind. Sie alle sollten mit den gleichen Rechten den gleichen Zugang bekommen. Ich möchte den Pass nicht als Identität diskutieren. Zu großem Teil steht ein deutscher Pass einfach für Privilegien, für Sicherheit.

 

Würden Sie soweit gehen zu sagen, „Jüdischsein“ in Deutschland heute emanzipiert sich noch immer – weg vom Holocaust zu einer frischen vielseitigen Identität? Jüdischsein heute kann doch mehr …?

Grundsätzlich stimme ich dem absolut zu. Wir sind müde, immer mit der Shoah verbunden zu werden. Das ist eine Belastung und eine Reduzierung einer tatsächlich vielfältigen, tollen und spannenden, ja, auch witzigen Kultur. Die Religion praktiziere ich zwar nicht selbst, mich interessieren aber die (Modernisierung-)Prozesse, die gerade im Judentum ablaufen. Keiner von uns möchte auf ewig in dieser Opfer-Schablone stecken. Von der Shoah kann sowieso niemand einfach so loskommen, dafür ist dieses Ereignis zu heftig. Der Punkt ist aber: Wer bestimmt heutzutage, wie sehr die Shoah in den Vordergrund gerückt wird? Wer besitzt die Hoheit über die Erinnerung und den Zeitpunkt, wann sie thematisiert wird? Hinter Forderungen, die Vielfalt des Judentums heute deutlicher zu zeigen, steckt auch die Forderung: Lasst uns selbst bestimmen, wann wir den Schmerz thematisieren und wann unsere Vielseitigkeit.

 

Sie schreiben nicht zwingend über die Staaten, sondern über die Gefühle, die sie in uns auslösen. Machen uns Staaten zu einem bestimmten Menschen, wenn wir in ihnen funktionieren wollen?

Ich weiß nicht, ob es die Staaten sind, die unseren Charakter prägen. Wir selbst schaffen ja auch den Staat. Wer wen beeinflusst, ist eine schwierige Frage. Ich würde es so formulieren: Migration hat neben all der Belastung auch eine sehr schöne Seite: Kultureller Reichtum ist kein Problem oder Defizit, im Gegenteil. Es ist wunderschön, mehrere Sprachen zu sprechen und mehrere Kulturen zu fühlen.

Bei der Frage „Wie sehr definiert der Staat einen Menschen?“ kann ich sagen: Mein Leben mit meinen verstreuten Zugehörigkeiten – deutsch, jüdisch, ukrainisch, russisch – fordert viel Autonomie, um festzustellen: Was gehört zu mir und was lehne ich ab? Aber ich kann finden, was wirklich zu mir selbst gehört. Wie ein Magnet.

 

Am Ende Ihres Buches wiederholt sich dieser Satz: „Nichts ist so gleichgültig wie Nationalitäten“. Ist das eine der Botschaften, die Sie sich rüberzubringen wünschen? Wir können Landsleute aller Herren Länder sein – wir können mehr als eines sein?

Zwar bin ich kein hoffnungsloser Utopist. Worauf ich aber hoffe, ist eine Weltgemeinschaft, in der Nationalitäten auf gleiche Weise gültig sind. Ohne Aggressivität und Chauvinismus. Ohne überhöhte nationalistische Egoismen, die eine humane Politik unmöglich machen. Um etwa eine Klimapolitik zu betreiben, die uns wirklich rettet. Viele Dinge scheitern letztlich an nationalen Egoismen, die wiederum mit der Wirtschaft verbunden sind.

 

Herr Kapitelman, wir leben in Pandemie-Zeiten, Ihr Buch ist 2021 erschienen. Hat Corona die Publikation und den Schreibprozess eher ausgebremst oder beschleunigt?

Die Arbeit am Manuskript habe ich im Juli 2020 abgeschlossen. Zu diesem Zeitpunkt lebten wir seit ein paar Monaten mit der Pandemie. Ich schmiss das russische Spezialitäten-Geschäft meiner Eltern, damit sie sich nicht anstecken und zu Hause bleiben konnten. Diese Monate haben noch einmal extra emotionalisiert. Menschen kauften sich Masken und Klopapier unter der Nase weg, die EU schloss die Grenzen. Das Gefühl einer großen Bedrohung floss auch in meinen Epilog ein. Auch die Angst davor, dass nationale Egoismen zunehmen anstelle von Solidarität. Die Solidarität aber ist notwendig für Herausforderungen wie Pandemie, Klimawandel oder Wirtschaftskrise.

Das Gefühl, das wir selbst in der Katastrophe eher in unsere politisch-nationalen Einzelteile zerfallen, ist am Ende definitiv eingeflossen. Alles, was aktuell herrscht, ist quasi einfach blöd. Zwar habe ich viele schöne Rückmeldungen von Leserinnen und Lesern. Die große Distanz derzeit ist aber einfach gemein und man fühlt sich vom Virus betrogen. Darunter leiden wir ja aber alle.

 

Vielen Dank.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 4/2021.

Dmitrij Kapitelman & Sandra Winzer
Dmitrij Kapitelman ist Journalist und Autor von „Eine Formalie in Kiew“ (Hanser Berlin, 2021). Sandra Winzer ist ARD-Journalistin beim Hessischen Rundfunk.
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