Stottern, Geduld und religiöse Erlebnisse

Johann Hinrich Claussen und Olaf Zimmermann im Gespräch

In Deutschland stottern Stand 2020 mehr als 800.000 Menschen, rund ein Prozent der Bevölkerung. Auch der Kulturbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland, Johann Hinrich Claussen, und der Herausgeber von Politik & Kultur, Olaf Zimmermann, haben bis ins Jugendalter gestottert. Heute ist das freie Sprechen essenzieller Kern ihrer Berufe. Für beide war es eine Aufgabe, an der sie nicht nur wuchsen, sondern die sie auch fernab klassischer Wege führte. Im Gespräch mit Theresa Brüheim berichten sie von sprachlichen Herausforderungen, Rhetorikkursen und dem religiösen Erlebnis des fließenden Atems.

 

Theresa Brüheim: Sie haben beide im Kindesalter gestottert. Wie haben Sie dies als Kind empfunden?

 

Johann Hinrich Claussen: Das Stottern hat mich geprägt, neben anderen Erfahrungen. Ein Glück war, dass ich deshalb nie geärgert wurde. Vor Kurzem sagte mir ein Schulfreund den Grund: Unsere Grundschullehrerin hatte in meiner Abwesenheit die Klasse eindrücklich ermahnt, mich nie wegen des Stotterns zu hänseln.
Eine unschöne Begebenheit kann ich aber nicht vergessen: Ich musste bei einer Sonderschule zur Beratung vorsprechen. Der Direktor wollte mich sofort umschulen. Das hat mir Angst gemacht. Zum Glück haben meine Eltern und meine wunderbare Logopädin mich beschützt. Ich habe oft mit mir gehadert, wenn ich die Worte nicht rausbekam. Deshalb wurde ich aber nie aus der Gemeinschaft der Freunde, der Klassenkameraden, der Familie ausgeschlossen.

 

Olaf Zimmermann: Ich habe erst mit sechs Jahren angefangen zu stottern, nachdem ich meine Mutter nach einem schweren Autounfall im Krankenhaus gesehen habe. Von dem Moment an konnte ich nicht mehr vernünftig sprechen. Es war traumatisch, so die Sprache zu verlieren. Ich bin auf dem Land groß geworden. Da ist man nicht immer nett miteinander umgegangen. Durch das Stottern wurde ich zum Außenseiter. Ich habe mich sehr zurückgezogen und hatte das Gefühl, nur meine Familie kann mich verstehen. Aber ich war gern allein. Das war für mich keine Strafe, sondern vollkommen in Ordnung. Wenn ich mit niemandem reden musste, gab es auch keinen Stress.
Ich bin damals auf einer Zwergschule – mit vier Klassen in einem Raum – gewesen, was eine pädagogische Katastrophe war. Auch ich sollte dann auf eine Sonderschule. Man wollte mich einfach loswerden. Meine Mutter hat sich aber mit Händen und Füßen dagegen gewehrt. Bis heute bin ich ihr sehr, sehr dankbar, dass sie das verhindert hat.

 

Claussen: Auch meine Mutter hat für mich gekämpft, dass ich nicht auf die Sonderschule musste. Sonst wäre mein Leben ganz anders verlaufen.

 

Zimmermann: Damals war die Sonderschule eine Resteschule, das ist glücklicherweise heute in der Förderschule nicht mehr so.

 

Welche Auswirkungen hatte das Stottern physisch und auch
psychisch auf Sie? Was hat das mit Ihnen gemacht?

 

Claussen: Körperlich gar nichts. Aber es gab Phasen, da war ich sehr aufgeregt in großen Kindergruppen. Auch habe ich mitteilungsfreudige Geschwister. Der Slot, etwas zu sagen, war immer eng. Oft habe ich dann nichts rausgekriegt. Das hat mich wahnsinnig frustriert. Durch die Logopädie habe ich gelernt, damit umzugehen. Allerdings hat es gebraucht, das umzusetzen. Der Grund für mein Stottern war falsches, hektisches Atmen. Als ich gelernt habe, dass der Atem kommt und ich darauf vertrauen kann, war es fast ein religiöses Erlebnis. Da war ich allerdings schon 14. Dann hat sich das Stottern gelöst. Ich habe mir aber das Bewusstsein bewahrt, dass das Sprechen nicht selbstverständlich ist. Als ich mit dem Pastorenberuf anfing, war ich noch mal intensiv in logopädischer Behandlung, um das öffentliche, deutliche, laute, sichere Sprechen zu lernen.

 

Herr Zimmermann, wie war das bei Ihnen?

 

Zimmermann: Die ersten vier Jahre, in denen ich gestottert habe, waren ein Albtraum. Ich wollte nie in die Schule, habe viele Krankheiten simuliert. Das war meine Flucht.
Mit zehn habe ich ein halbes Jahr in einer Spezialklinik für Stotternde verbracht. Das war eine große Veränderung. Dort wurde sich das erste Mal wirklich um mich gekümmert. Es gab den ersten leichten Aufbruch, allmählich konnte ich mich auch wieder mit Freunden verständigen. Aber erst mit dem siebten Schuljahr wurde die Zwergschule in dem kleinen Dorf, in dem ich lebte, geschlossen und ich durfte in die eine Hauptschule in der Nachbargemeinde gehen. Da habe ich das erste Mal erlebt, dass es für jede Jahrgangsstufe eine eigene Klasse gab. Das war wie eine Offenbarung! Was vorher nicht funktionierte, klappte auf einmal. Ich konnte mich nie konzentrieren, wenn andere geredet haben. In einer Zwergschule wurde der Unterricht immer parallel für einen anderen Teil der Schüler gemacht. Das war neben dem Stottern wahnsinnig anstrengend für mich. Zwar habe ich auch auf der Hauptschule weiter mit dem Stottern gehadert, aber das Umfeld war ein anderes.
Irgendwann kam das Atmen auch bei mir automatisch und es wurde besser. Aber selbst heute habe ich immer noch Situationen, in denen ich innehalten und neu beginnen muss. Das passiert glücklicherweise nicht mehr so oft. Natürlich hat das Stottern große Defizite in der Schule mit sich gebracht, z. B. habe ich nie eine Fremdsprache richtig gelernt. Es hat einfach nicht funktioniert. Ich musste mich auf die eine Sprache konzentrieren und war froh, dass ich die hinbekomme. Am Anfang haben die Leute auch gesagt: „Du wirst nie frei reden können. Auch wenn du das Stottern im Griff hast, bleibst du behindert und wirst viele Sachen nicht machen können.“ Das Verrückte ist, dass ich gerade das freie Reden vor vielen Menschen heute unglaublich gern und viel mache. Die Leute, die mir gesagt haben, was ich alles nicht kann, hatten einfach Unrecht.
Das Stottern hat mein Leben stark geprägt. Dadurch habe ich auch bestimmte Interessen ausgebildet. Ich habe ein großes Interesse an der Natur und bin sehr gern allein in der Natur unterwegs. Durch das Stottern war ich als Kind meist allein draußen. Ich wollte auch gar nicht mit den anderen Kindern spielen, da hätte ich ja reden müssen.

Johann Hinrich Claussen, Olaf Zimmermann & Theresa Brüheim
Johann Hinrich Claussen ist Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland. Olaf Zimmermann ist Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates und Herausgeber von Politik & Kultur. Theresa Brüheim ist Chefin vom Dienst von Politik & Kultur.
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