Stottern, Geduld und religiöse Erlebnisse

Johann Hinrich Claussen und Olaf Zimmermann im Gespräch

Heute ist das öffentliche Sprechen essenzieller Kern Ihrer beiden Berufe. Herr Claussen, Sie haben auch einen eigenen Podcast. Das ist ein Medium, welches exklusiv über die Sprache funktioniert. Suchen Sie sich bewusst sprachliche Herausforderungen?

 

Claussen: Ich suche mir Gelegenheiten, um zu und mit anderen Menschen zu sprechen. Das hat aber nichts mehr mit meinem Stottern zu tun. Es bereitet mir einfach Freude. Aber mir ist bewusst, dass es nicht selbstverständlich ist. Deshalb bereite ich mich auf das Sprechen bewusst vor, etwa indem ich mich richtig hinsetze oder -stelle, ein, zwei ruhige Atemzüge nehme. Das habe ich automatisiert. Aber ich habe immer Lampenfieber – sogar bei einer kleinen Taufe. Und ich bin immer froh, wenn ich es geschafft habe.

 

Wie ist das bei Ihnen, Herr Zimmermann? Sie geben nahezu täglich Interviews und führen zahlreiche Gespräche, da muss die Sprache auf den Punkt kommen.

 

Zimmermann: Es gibt bestimmte Sachen, die mir leichtfallen. Dazu zählt heute, frei zu sprechen. Das habe ich geübt. Ich habe z. B. Rhetorikseminare besucht. Das war anfangs sehr aufregend, aber ich habe nützliche Techniken gelernt: warten, Scheibenwischerblick, richtig atmen usw. Daran halte ich mich fest. Das freie Sprechen ist nicht von heute auf morgen gekommen. Es war ein langer Weg voller Arbeit. Dadurch war ich besonders gefordert. Unterm Strich hat es meine Entwicklung positiv beeinflusst, dass ich Stotterer bin. Bei allen Problemen, die es mir brachte, bin ich mir sicher, dass ich heute nicht das machen würde, was ich tue, wenn ich nicht gestottert hätte. Höchstwahrscheinlich wäre ich einen viel normaleren Weg gegangen.
Anderes aber bereitet mir noch immer erhebliche Schwierigkeiten. Beispielsweise habe ich Probleme, Namen oder Begriffe in Fremdsprachen auszusprechen, ich verfalle dann wieder ins Stottern. Aber ich versuche, das Problem zu umgehen. Solche Begriffe deutsche ich alle ein.

 

Claussen: Ein Sprachreiniger.

 

Zimmermann: Genau, ich reinige für mich die Sprache. Ich versuche, auch Namen von Personen mit schwieriger Aussprache zu umgehen. Oder wenn nicht möglich, dann benenne ich offen das Problem und sage: „Sie müssen mir helfen, Ihren Namen richtig auszusprechen“. Manche Leute halten das für eine Zumutung. Aber das hat in meinem Fall nichts mit Rassismus zu tun. Ich kann sie eben nicht einfach aussprechen. Ich sehe es als eine Form von Behinderung, die von außen nicht erkannt wird.
Aber ich möchte auch nicht die ganze Zeit darüber reden und mich auf Podiumsdiskussionen oder anderen Veranstaltungen erklären.

 

Claussen: Es besteht die Gefahr, dass man sich selbst oder andere mit der Opferkategorie belegt.

 

Zimmermann: Das Stottern behindert heute nicht mehr mein Leben, also möchte ich damit nicht hausieren gehen. Auch erst in den letzten Jahren spreche ich offen über das Thema. Früher habe ich mit niemand darüber geredet, ich wäre gar nicht auf die Idee gekommen.

 

Claussen: Für uns beide ist das Stottern kein Dauerthema mehr. Dennoch waren wir in besonderer Weise angerührt von der Gedichtrezitation von Amanda Gorman bei der Amtseinführung von Joe Biden.

 

Beide – Gorman und Biden – hatten im Kindesalter eine Sprechbehinderung. Das rhythmische Sprechen half ihnen dabei, diese zu überwinden. Was hat Sie an der Gedichtrezitation von Amanda Gorman besonders berührt?

 

Claussen: Er steht auf der Bühne im hohen Alter, sie rezitiert mit dieser jugendlichen Sprachschönheit. Beide haben diese Geschichte, die mich mit ihnen verbindet. So seltsam es klingt: Ich fühlte mich da von den beiden repräsentiert. Lustig, nicht? Fremdes Land, was habe ich mit denen zu tun? Aber ich fühlte mich repräsentiert.

 

Zimmermann: Ich denke, dass Stottern dazu führen kann, dass man bestimmte Sachen intensiver machen muss und damit letztendlich stärker und erfolgreicher ist. Es gibt erstaunlich viele Stotterer, aus denen was geworden ist.

 

Claussen: Auch für mich war das Stottern rückblickend wichtig. Aber wenn es das nicht gewesen wäre, wäre es was anderes gewesen. Es gibt eben nicht das normale Kind, den normalen Jugendlichen. Jeder hat eine Herausforderung. Bei dem Einen ist es das Stottern, bei dem Anderen die Akne, bei dem Dritten die geschiedenen Eltern, bei dem Nächsten die Unsportlichkeit … Jeder bekommt hoffentlich nur eine Aufgabe, mit der leben lernt und an der er wächst.

 

Vielen Dank.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2021.

Johann Hinrich Claussen, Olaf Zimmermann & Theresa Brüheim
Johann Hinrich Claussen ist Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland. Olaf Zimmermann ist Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates und Herausgeber von Politik & Kultur. Theresa Brüheim ist Chefin vom Dienst von Politik & Kultur.
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