Inklusive Kulturpolitik als Gegenteil von Identitätspolitik

Eine Zwischenreflexion

Am 27. September 2017 wird ein kantiger und nicht eben leichter Stein ins Wasser geworfen: Im Haus der damaligen Bundesbehindertenbeauftragten erblickt ein fast 300 Seiten starker Sammelband das Licht der Öffentlichkeit, ein Buch aus der Feder von Menschen mit und ohne Behinderung, von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern verschiedener Fakultäten und Kulturverantwortlichen unterschiedlicher Sparten: „Inklusive Kulturpolitik“ heißt das gemeinsam verfasste Buch und damit war eigentlich klar, dass dieser Stein im Wasser zwar keinen Tsunami, wohl aber doch kräftige Wellen auslösen wird. „Inklusive Kulturpolitik“ – ist das nicht identitär und separatistisch? Unsere freiheitlich demokratische Kulturpolitik schließt doch alle ein, lässt jede und jeden teilhaben – oder etwa nicht?

 

Einige Monate vor Erscheinen des Buchs „Inklusive Kulturpolitik“ hatte die Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen eine kleine Anfrage zum Thema „Gleichberechtigte Teilhabe und Barrierefreiheit in Kultur und Medien“ gestellt, in der sie unter anderem nach dem Stand der Inklusion bei den vom Bund institutionell geförderten Kultureinrichtungen fragte. Die Antwort der Bundesregierung lautete, dass gerade einmal zehn Prozent der mehr als 70 bundesgeförderten Kultureinrichtungen Menschen mit Beeinträchtigungen aktiv an Gestaltung und Entwicklung ihrer Angebote beteiligten, nur zwölf Prozent boten spezielle Führungen bzw. individuell abgestimmte Zugänge für Menschen mit Beeinträchtigungen an, nur knapp 20 Prozent waren umfassend barrierefrei und lediglich ein Drittel boten Über-/Untertitelung, Gebärdensprache und barrierefreie Webseiten an.

 

So also sah der ernüchternde Befund acht lange Jahre nach Ratifizierung der Behindertenrechtskonvention der UN, kurz UN-BRK, durch die deutsche Bundesregierung aus. Grund genug also, namhafte Expertinnen und Experten zusammenzutrommeln und eine facettenreiche „Inklusive Kulturpolitik“ entwerfen zu lassen – mit gemeinsamem roten Faden, aber durchaus in kritischer Abwägung des Pro und Contra dessen, was unter dem titelgebenden Begriff zu verstehen sei: So regt der Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates, Olaf Zimmermann, in dem Sammelband an, kulturpolitisch könne „… von den Erfahrungen des Deutschen Olympischen Sportbunds in der paralympischen Arbeit gelernt werden“, während der Politikphilosoph Thomas Noetzel dies als kulturpolitisches Modell ablehnt: „Gerade in der Ausdifferenzierung eines ›Behindertensports‹ manifestiert sich sein sozialpatriarchalisch verklärtes Stigma“. Beide, Noetzel und Zimmermann, sind auch Eigenexperten in Bezug auf Behinderungserfahrungen.

 

An dem kleinen Beispiel Noetzel „versus“ Zimmermann zeigt sich, dass man inklusive Kulturpolitik sehr ehrlich, sehr offen, mit Reibungswärme diskursiv und prozesshaft entwerfen kann, ja entwerfen muss. Mit einer fachlich fundierten Debattenkultur führt inklusive Kulturpolitik keinesfalls per se in die Sackgasse der „(Selbst)Segregation“, wie es Norbert Sievers unlängst in einem Beitrag vom 2. Juni 2021 für die Essay-Serie #neueRelevanz der Kulturpolitischen Gesellschaft befürchtete. Dass es auf dem Feld der Behindertenpolitik mitunter auch Aktivismus mit Schaum vor dem Mund gibt, ist kein Argument gegen inklusive Kulturpolitik, vielmehr macht es eine seriöse, faktenbasiert-wissenschaftlich unterfütterte inklusive Kulturpolitik geradezu unabdingbar. Und diese wiederum bedarf der Meta-Reflexion durch anwendungsbezogene Kulturpolitikwissenschaft – eine Disziplin, die in Deutschland im Vergleich zum angelsächsischen Raum unverständlicher Weise ein Schattendasein fristet.

 

„Brauchen wir eine inklusive Kulturpolitik?“, fragte Max Fuchs – ebenfalls Autor des eingangs erwähnten Buchs – in einem Beitrag dieser Zeitung (6/2017). Ob man etwas braucht, bemisst sich stets an einer konkreten Nachfrage angesichts eines konkreten Defizits. 2017 – im Jahr des Erscheinens des Buchs „Inklusive Kulturpolitik“ – gab es neben vereinzelt vorbildlichen, geglückten Projekten auf der inklusiven Haben-Seite noch ein riesiges unbeackertes Feld auf der Soll-Seite. Genau vier Jahre sind seitdem vergangen – was hat sich in der Zwischenzeit inklusiv-kulturpolitisch getan?

 

Das von der Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW in Kooperation mit dem Verein InTakt kuratierte und von der Bundesregierung geförderte „Netzwerk Kultur und Inklusion“ führte 2019 eine Umfrage unter den künstlerischen Hochschulen in Deutschland durch, um zu überprüfen, inwieweit Menschen mit Behinderung gleichberechtigten Zugang zu berufsqualifizierenden künstlerischen Studiengängen erhalten und inklusive Belange in den Studiengängen implementiert sind.

 

Das Ergebnis der Umfrage war durchwachsen: Immerhin 71 Prozent der berufsqualifizierenden künstlerischen Hochschulen hatten nach eigenen Aussagen Studierende mit Behinderung im Studium; 76 Prozent der Hochschulen legen ihre Prüfungsordnungen im Sinne des Nachteilsausgleichs flexibel aus. Bedenklich ist jedoch, dass Stand 2019 ein Drittel der künstlerischen Hochschulen die Lehre noch nicht für Themen der Inklusion geöffnet hatte; auch eine systematische Integration des Themenfelds in die Hochschuldidaktik jenseits punktueller Kooperationsprojekte fehlte vielerorts. Zehn (!) Jahre nach Ratifizierung der UN-BRK solche Lücken in einem der wichtigsten Kulturbereiche, nämlich in der künstlerischen Nachwuchsausbildung, antreffen zu müssen, ist skandalös. Der reflexhafte Hinweis etwa der Kultusministerkonferenz, dies sei keine ländergemeinsame Materie, hilft da keinen Deut weiter.

Vorsichtig optimistisch stimmen aber aktuelle Stichproben des Autors des vorliegenden Beitrags bei mehreren künstlerischen Hochschulen im August 2021: Die Hochschulen haben die Zeit der Pandemie offenbar nicht untätig verstreichen lassen, sondern ihre Inklusionskonzepte für Studieninteressierte und Studierende mit Behinderungen oder chronischen Erkrankungen unterdessen vielfach nachgebessert. Etliche Hochschulen haben jüngst mit ihren Mitarbeitenden verbindliche Inklusionsvereinbarungen geschlossen, Nachteilsausgleiche sind weiter ausdifferenziert worden, Inklusionsbeauftragte bieten mittlerweile an vielen Hochschulen Einzelcoachings. Wichtige Impulse für das Fortschreiten in diese Richtung gehen aktuell vom BKM-geförderten Programm „ARTplus Ausbildung“ des Verbandes EUCREA aus, das künstlerisch begabten Menschen ein breites Studienspektrum von der Gasthörerschaft bis hin zur regulären Graduierung an künstlerischen Hochschulen vermittelt und die damit gemachten Erfahrungen laufend evaluiert und in die Kultur- und Hochschulpolitik rückspiegelt.

 

Eine andere große Baustelle ist etwa die in der UN-BRK festgeschriebene Barrierefreiheit von Filmen. Die entsprechenden Novellen des Filmförderungsgesetzes können natürlich nur deutsche Produktionen entsprechend verpflichten; Firmen wie Paramount oder Sony fallen da durchs Raster und lassen das Kinopublikum mit Seh- und Hörbehinderungen oft am langen Arm verhungern.

 

Nur ein Viertel der in Deutschland anlaufenden Filme liegt beim Kinostart mit Audiodeskriptionen vor und überdies scheuen etliche Verleiher davor zurück, die Gebühren für die kinounabhängigen Barrierefreiheits-Apps Greta & Starks zu zahlen – hier kann wahrscheinlich nur mit mehr öffentlichen Förderanreizen Abhilfe geschaffen werden.

 

Inklusive Kulturpolitik ist ein sehr mühsames Geschäft und Rückschritte vom bereits Erreichten sind an der Tagesordnung. Wie konnte es beispielsweise sein, dass unter den Teilnehmenden des hochrenommierten, aus Steuergeld millionenschwer geförderten Tanzkongresses 2019 der Kulturstiftung des Bundes nicht eine Person mit Behinderung zu finden war und keine Informationen zu Barrierefreiheit bereitgestellt wurden? Wenn schon vermeintliche Leuchttürme nur schwach funzeln, wie sollen dann kleine und ganz kleine Kulturträger, durch die Pandemie ohnehin an der Grenze ihrer Ressourcen, inklusionsmäßig zum Strahlen gebracht werden? Nochmals zur Erinnerung: Die UN-BRK ist keine nette unverbindliche Empfehlung, sondern seit 2009 in Deutschland geltendes Recht – das leider punktuell permanent gebrochen wird. Im Newsletter von Raul Krauthausen schrieb die Malerin und Illustratorin Annton Beate Schmidt am 9. Juni 2020: „Ich werde nicht mehr kämpfen, mich nicht verausgaben für einen Platz in der Gesellschaft, der mir zusteht“ – denn der Kampf um Beteiligungsgerechtigkeit in Kunst und Kultur ist keine Bringschuld der Betroffenen, sondern eine Bringschuld der Kulturpolitik. „Brauchen wir eine inklusive Kulturpolitik?“ ist also allenfalls eine rhetorische Frage.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2021.

Jakob Johannes Koch
Jakob Johannes Koch ist Theologe, Musiker und Herausgeber des Buchs „Inklusive Kulturpolitik“ (2017).
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