Inklusive Kulturpolitik als Gegenteil von Identitätspolitik

Eine Zwischenreflexion

Vorsichtig optimistisch stimmen aber aktuelle Stichproben des Autors des vorliegenden Beitrags bei mehreren künstlerischen Hochschulen im August 2021: Die Hochschulen haben die Zeit der Pandemie offenbar nicht untätig verstreichen lassen, sondern ihre Inklusionskonzepte für Studieninteressierte und Studierende mit Behinderungen oder chronischen Erkrankungen unterdessen vielfach nachgebessert. Etliche Hochschulen haben jüngst mit ihren Mitarbeitenden verbindliche Inklusionsvereinbarungen geschlossen, Nachteilsausgleiche sind weiter ausdifferenziert worden, Inklusionsbeauftragte bieten mittlerweile an vielen Hochschulen Einzelcoachings. Wichtige Impulse für das Fortschreiten in diese Richtung gehen aktuell vom BKM-geförderten Programm „ARTplus Ausbildung“ des Verbandes EUCREA aus, das künstlerisch begabten Menschen ein breites Studienspektrum von der Gasthörerschaft bis hin zur regulären Graduierung an künstlerischen Hochschulen vermittelt und die damit gemachten Erfahrungen laufend evaluiert und in die Kultur- und Hochschulpolitik rückspiegelt.

 

Eine andere große Baustelle ist etwa die in der UN-BRK festgeschriebene Barrierefreiheit von Filmen. Die entsprechenden Novellen des Filmförderungsgesetzes können natürlich nur deutsche Produktionen entsprechend verpflichten; Firmen wie Paramount oder Sony fallen da durchs Raster und lassen das Kinopublikum mit Seh- und Hörbehinderungen oft am langen Arm verhungern.

 

Nur ein Viertel der in Deutschland anlaufenden Filme liegt beim Kinostart mit Audiodeskriptionen vor und überdies scheuen etliche Verleiher davor zurück, die Gebühren für die kinounabhängigen Barrierefreiheits-Apps Greta & Starks zu zahlen – hier kann wahrscheinlich nur mit mehr öffentlichen Förderanreizen Abhilfe geschaffen werden.

 

Inklusive Kulturpolitik ist ein sehr mühsames Geschäft und Rückschritte vom bereits Erreichten sind an der Tagesordnung. Wie konnte es beispielsweise sein, dass unter den Teilnehmenden des hochrenommierten, aus Steuergeld millionenschwer geförderten Tanzkongresses 2019 der Kulturstiftung des Bundes nicht eine Person mit Behinderung zu finden war und keine Informationen zu Barrierefreiheit bereitgestellt wurden? Wenn schon vermeintliche Leuchttürme nur schwach funzeln, wie sollen dann kleine und ganz kleine Kulturträger, durch die Pandemie ohnehin an der Grenze ihrer Ressourcen, inklusionsmäßig zum Strahlen gebracht werden? Nochmals zur Erinnerung: Die UN-BRK ist keine nette unverbindliche Empfehlung, sondern seit 2009 in Deutschland geltendes Recht – das leider punktuell permanent gebrochen wird. Im Newsletter von Raul Krauthausen schrieb die Malerin und Illustratorin Annton Beate Schmidt am 9. Juni 2020: „Ich werde nicht mehr kämpfen, mich nicht verausgaben für einen Platz in der Gesellschaft, der mir zusteht“ – denn der Kampf um Beteiligungsgerechtigkeit in Kunst und Kultur ist keine Bringschuld der Betroffenen, sondern eine Bringschuld der Kulturpolitik. „Brauchen wir eine inklusive Kulturpolitik?“ ist also allenfalls eine rhetorische Frage.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2021.

Jakob Johannes Koch
Jakob Johannes Koch ist Theologe, Musiker und Herausgeber des Buchs „Inklusive Kulturpolitik“ (2017).
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