Über sechzig Verfassungsänderungen

Die Geschichte des Grundgesetzes anhand seiner Änderungen

Welches war nach der Wiederbewaffnung die nächste gravierende Grundgesetzänderung? Die Notstandsgesetze 1968?
Ja. Dazu muss man wissen, dass die West-Alliierten nach 1945 Vorbehaltsrechte in der Bundesrepublik hatten. Aber sie sagten: Da ihr über die Wiederbewaffnungsfrage in eine neue Dimension der Souveränität hereinwachst, könnt ihr dann auch für euch selbst eine innenpolitische Regelung für den Notstandsfall treffen.
Somit steckt in dem, was einen ungeheuren Demokratisierungsschub mit sich brachte, nämlich beim folgenden Kampf gegen die Notstandsgesetze, die nachholende Regelung eines Souveränitätsaspektes: Wie regelt dieser Staat seine Entscheidungsstrukturen für den Verteidigungsfall?
Auch im Protest gegen die Notstandsgesetze zeigt sich ein wichtiges Kontinuum: Die Debatte der 1950er Jahre – Widerstand gegen die Wiederbewaffnung, auch als atomare – ist eine erste Ermächtigung der Zivilgesellschaft. Und die Notstandsgesetze 1968 verstärken das gesellschaftliche Bewusstsein, dass es die Individualrechte gegen einen potenziell allmächtigen Staat zu verteidigen gilt. Es ist immer der Gedanke des „Nie wieder“, der in beiden Etappen die prägende Überschrift stiftet. In den 1950er Jahren ging es um die Frage: Nie wieder Krieg. In den 1960er Jahren ging es um die Frage: Nie wieder Weimar, nie wieder Regieren durch Notverordnungen, bis hin zum Faschismus. Darüber findet 1968 die Selbstermächtigung einer ganzen Generation statt. Es ist der Wille zu mehr Demokratie, an dessen Spitze sich dann Willy Brandt setzte. Das ist nicht ohne Ironie, denn er hatte ja in der Großen Koalition die Notstandsgesetze mit verabschiedet.

 

War die Verabschiedung der Notstandsgesetze eine Verfassungszäsur, die mit einer politischen Zäsur im Regierungswechsel einherging?
Mit der Kanzlerschaft Brandts erfolgte 1969, nach 20 Jahren Bundesrepublik, der erste politische Machtwechsel in dieser Republik. Das war der erste echte Funktionsnachweis dieser Demokratie. Es gab dann in der Folge in den 1970er Jahren eine ganze Reihe von Grundgesetzänderungen, die den demokratischen Reformgedanken fortschrieben: die Senkung des Wahlalters von 21 auf 18 Jahre, die Möglichkeit der Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht – das stand ja nicht von Anfang an im Grundgesetz.

 

Das Grundgesetz sollte als vorläufige Verfassung ausdrücklich nur so lange gelten, bis das deutsche Volk in seiner Gesamtheit eine endgültige Verfassung verabschieden würde. Diese Möglichkeit war 1990 mit dem Einigungsvertrag gegeben – aber eine neue Verfassung wurde nicht erarbeitet. Wurde da eine Chance verpasst?
Es gab nach 1989 viele Diskussionen und Vorschläge für eine neue Verfassung. Aber mehrheitlich setzte sich die Meinung durch, dass sich dieses Grundgesetz bewährt hatte. Man hat sich also auf den altbundesrepublikanischen Verfassungspatriotismus beschränkt. Wenn man damals eine gesamtdeutsche Debatte geführt und gemeinsam eine neue Verfassung erarbeitet hätte, wären vielleicht manche der Identitätsprobleme, die wir heute in Ostdeutschland haben, nicht ganz so brutal aufgetreten. Zugespitzt gesagt: Der Verfassungspatriotismus ist eine Westangelegenheit geblieben. Den gleichen Stolz auf das Grundgesetz wie im Westen wird man im Osten heute kaum finden. Wir haben es also mit einer gekappten Entwicklung zu tun.

 

In den Grundgesetzänderungen nach 1990 wurden auch Rechte eingeschränkt, zum Beispiel das Asylrecht. Die Abschiebemöglichkeit in sogenannte »sichere Drittstaaten« kam erst 1993 ins Grundgesetz.
Das war eine harte Einschränkung. Sie hat auch ungemeinen Protest ausgelöst. Heute weiß man, dass diese Form der Abschottung verheerende Folgen hatte. Das „Aus-den-Augen-aus-dem-Sinn“-Prinzip – „sollen es doch die Italiener regeln, soll es doch Folgen außerhalb Europas haben“ – führte mit zu der gewaltigen Flucht von 2015. Wir erlebten dieses Ereignis auch deswegen so massiv, weil wir zuvor nicht mehr die erforderliche Sensibilität für die existenzielle Betroffenheit anderer gehabt haben, in Europa wie im Rest der Welt.

 

Hat es eine Bedeutung, dass mittlerweile der Schutz natürlicher Lebensgrundlagen im Grundgesetz steht oder das Tierwohl als „Staatsziel“ hineingeschrieben wurde?
Das sind derzeit keine einklagbaren Rechte, aber hier zeigt sich, dass die Verfassungsdebatte heute eine ganz andere ist als noch in den 1950er und 1960er Jahren: Damals war sie ganz primär vergangenheitsbezogen. Die große Sorge war, dass man wieder zurückfällt – in Weimarer oder gar nationalsozialistische Verhältnisse.
Die Sorge, die wir heute haben müssen, ist eine andere. Früher ging es um Vergangenheitsbewältigung („Nie wieder“), heute lautet die entscheidende Frage: Taugt die Verfassung der Republik zur Zukunftsbewältigung – für den Schutz einer lebenswerten Umwelt und damit auch für die Rechte der jungen und zukünftigen Generationen? Und die Antwort auf diese Frage steht noch aus.

 

Dieses Interview ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 04/2019.

Albrecht von Lucke und Hans Jessen
Albrecht von Lucke ist Redakteur der "Blätter für deutsche und internatio­nale Politik". Hans Jessen ist freier Journalist und ehemaliger ARD-Hauptstadtkorrespondent.
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