Über sechzig Verfassungsänderungen

Die Geschichte des Grundgesetzes anhand seiner Änderungen

Ein Blick zurück auf den kontinuierlichen Wandel: Der Publizist, Jurist und Politologe Albrecht von Lucke erzählt die Geschichte des Grundgesetzes mal anders – nämlich anhand der zahlreichen Veränderungen des Gesetzestextes.

 

Hans Jessen: Herr von Lucke, das Grundgesetz wurde in 70 Jahren über 60 Mal geändert. Ist das viel oder wenig?
Albrecht von Lucke: Das ist viel, aber es musste auch so viel sein. Was wir heute als gestandene Verfassung begreifen, war an seinem Anfang nun gerade keine fertige Verfassung, sondern ein rechtliches Provisorium für einen noch nicht souveränen Teilstaat. Das Grundgesetz – als „basic law“ – musste notwendigerweise in ständiger Fortschreibung über die großen historischen Brüche dieses Landes hinwegkommen und so eigentlich erst zu dem werden, was es heute ist.
Es gibt in der Wertschätzung oder in der Kritik am Grundgesetz heute zwei Lesarten. Eine Lesart der Ästheten, die von einer großen Verfallsgeschichte sprechen: Die schönen, puristischen Artikel des alten Grundgesetzes seien auf den Hund gekommen durch die unzähligen Änderungen, die nicht mehr die gleiche, klare Sprache sprechen.
Meines Erachtens ist die stimmigere Lesart aber die politisch-pragmatische, wonach das Grundgesetz tatsächlich ungemein ergänzungsbedürftig war. Nur weil die Verfassung durch die notwendigen Änderungen gegangen ist, über die großen Debatten dieses Landes, ist das staatsbürgerliche Verständnis
so geronnen, dass wir heute als Verfassungspatrioten – ob konservativer, liberaler oder linker Art – voll auf dem Boden des Grundgesetzes stehen.

 

Lassen sich die Verfassungsänderungen in Kategorien fassen? Wenn ja, welche sind das? Viele Veränderungen betrafen Finanzfragen. Steueraufkommen und -verteilung, auch die Organisation der Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern wurden mehrmals verändert. Haben diese Reformen den Charakter des Grundgesetzes nicht erheblich bestimmt?
In der Tat. Wir haken das eigentlich Zentrale oft quasi im Vorbeigehen ab: Im Grundgesetz haben wir es mit einer ungeheuren Vielzahl von Kompetenzregelungen zu tun. Dort muss eine ständige Konkretisierung der Zuständigkeiten von Bund und Land stattfinden. Deshalb haben wir über die Jahre alle möglichen Föderalismusreformen erlebt.
Das betrifft auch die europäische Ebene: Wie werden Kompetenzen nach Europa verlagert – nach Brüssel, nach Straßburg? Diese Veränderungen machen einen großen Anteil der Grundgesetzveränderungen aus. Für die politische Kultur sind sie aber weit weniger relevant als die eigentlichen großen Zäsuren, die ganze Jahrzehnte geprägt haben.

 

Die erste große Zäsur, auch in der Änderung des Grundgesetzes, war die Wiederbewaffnung?
Ja. Die erste große Änderungswelle beginnt Anfang der 1950er Jahre.
Die Wiederbewaffnung stand für eine Frage ganz grundsätzlicher Art: Wie wird Deutschland wieder souverän? Inwieweit wächst Deutschland, durchaus auch von außen gewollt, in die Rolle des souveränen Staates, der plötzlich Teil des westlichen Bündnisses sein soll?
Es war die Zeit des Koreakrieges, Asien rückte schon damals ins Zentrum der US-Politik, das ist nicht erst seit Obama oder Trump so. Die Amerikaner wollten Deutschland – zu ihrer Entlastung in Europa – als Teil eines militärischen Bollwerks gegen den Kommunismus. Bundeskanzler Adenauer ist sofort auf dieses amerikanische Interesse eingestiegen. Er hat den Kurs – Wiederbewaffnung, Pariser Verträge – innenpolitisch völlig eigenmächtig, an Freund und Feind vorbei, durchgesetzt.
Das ist der erste große Einschnitt. 1949 hatte Franz Josef Strauß gesagt: „Wer noch einmal ein Gewehr in die Hand nehmen will, dem soll die Hand abfallen.“ Wenige Jahre später war dieser Mann Verteidigungsminister und strebte sogar nach Atomwaffen.
Diese erste große Zäsur war auch ein Bruch mit dem Selbstverständnis, Deutschland werde nie wieder eine Armee haben.
Diese Verfassungsänderung steht für einen historischen Bruch, der auch kulturell hochwirksam ist: Denn im Zuge der Wiederbewaffnung und der Wiedererlangung (teilweiser) nationaler Souveränität brach die erste große Welle des Protestes los. Die Grundgesetzänderung führte dazu, dass sofort ein anderer Teil der Gesellschaft, der genauso verfassungspatriotisch war, sagte: „Nie wieder“ bzw. „ohne mich“ und später auch „Kampf dem Atomtod“, gegen die atomare Bewaffnung.
Damals ging ein großer Teil der Kriegsgeneration auf die Straße, zusammen mit vielen Nachgeborenen, es gab eine echte erste große Auseinandersetzung über die Frage: Welche Verfassung soll dieses Land haben?

Albrecht von Lucke und Hans Jessen
Albrecht von Lucke ist Redakteur der "Blätter für deutsche und internatio­nale Politik". Hans Jessen ist freier Journalist und ehemaliger ARD-Hauptstadtkorrespondent.
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