Integration durch Verfassung – wie geht das?

Verfassungen garantieren Teilhabe für alle Bürger

Gewiss, das Grundgesetz hat eine integrative Bedeutung für die Bundesrepublik Deutschland, aber das war nicht immer der Fall, vor allem nicht von Anfang an. 1949 war die Aufmerksamkeit für das Provisorium, welches die Ministerpräsidenten den Westalliierten abgerungen hatten, eher gering. Denn es sollte keineswegs um eine vollgültige Verfassung gehen. Deutschland spaltete sich in West und Ost, und das vertrug keine Konstitution, die vom Volk ratifiziert wurde. Das hätte den falschen Eindruck der dauerhaften Einrichtung im Weststaat erzeugt – deshalb „nur“ Grundgesetz. Und doch: Die Verfassungsordnung blieb auch dann bestehen, als es zur Vereinigung 1990 kam. Bis dahin hatte sich das Grundgesetz allgemeine Anerkennung erworben. Wie kam es dahin, wie konnten sich die Bürgerinnen und Bürger der ehemaligen DDR darin wiederfinden, und welche Chancen gibt es, dass das Grundgesetz auch den Zugewanderten und Geflüchteten zu einer wertgeschätzten Verfassung wird?

 

Es klingt paradox: Das Grundgesetz wurde zu einer Grundlage des bundesdeutschen Selbstverständnisses, weil es von allen Seiten unterschiedlich ausgelegt und in Anspruch genommen wurde. Vor allem in den 1970er Jahren prallten die partei- und gesellschaftspolitischen Lager hart aufeinander: Immer ging es um die richtige Interpretation des Grundgesetzes – als um die Zulässigkeit der Abtreibung, die Kriegsdienstverweigerung, die Unternehmens- und Hochschulmitbestimmung, die Deutschland- und Ostpolitik gerungen wurde. Der Streit wurde vor dem Bundesverfassungsgericht ausgetragen und oftmals auch dort entschieden. Weil sich alle Parteien auf das Grundgesetz beriefen, wurde die Verfassung zur gemeinsamen Grundlage. Integration durch Konflikt – das ist die Zauberformel, die die Bundesdeutschen zu einem „Volk von Grundgesetzbekennern“, zu „Verfassungspatrioten“ machte. Vor allem auch wurde das Grundgesetz zur „Bibel des Volkes“, wie Thomas Paine für die amerikanische Verfassung Ende des 18. Jahrhunderts befunden hatte, weil Bürgerinnen und Bürger Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe einlegen konnten. Das Verfassungsgericht wurde zum Bürgergericht.

 

1990 wiederholte sich die Geschichte. Nach Friedlicher Revolution und Wiedervereinigung, so musste zunächst erwartet werden, hätte sich das „deutsche Volk“ eine neue gesamtdeutsche Verfassung geben sollen. Doch es kam anders, das Grundgesetz bestand fort, sein Geltungsgebiet wurde auf die neuen Bundesländer ausgedehnt. Wieder keine unmittelbare demokratische Legitimation, wieder der Weg über Aneignung durch die Bürgerinnen und Bürger, bis dass sie das Grundgesetz als ihre eigene Verfassung begreifen. Der ausdrückliche Wunsch und die schnelle Umsetzung, dem Grundgesetz „beitreten“ zu wollen, erleichterte die Anerkennung, ebenso eine Reihe von vereinigungsbedingten Änderungen. Und auch die sensible Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, welche Belange der Ostdeutschen zu berücksichtigen verstand – wie Wahlrecht, Bestand der Bodenreform, Abtreibungsregelung – trug entscheidend mit dazu bei, dem Grundgesetz auch im Osten Geltung und Anerkennung zu verschaffen – obwohl es keine neue gesamtdeutsche Verfassung gegeben hatte.

 

Ist damit das Grundgesetz Unterpfand des gesellschaftlichen Zusammenhalts? In Zeiten starker gesellschaftlicher Spaltungen und politischer Polarisierungen gibt es Zweifel. Die „Flüchtlingskrise“ hat die Demokratie der Bundesrepublik unter Druck gesetzt. Verfassungen sind Regelwerke, die helfen, Konflikte zivilisiert auszutragen. Sie helfen dabei, sie sind aber keine Garantien. Das sieht man dort, wo Kräfte die Unabhängigkeit der Justiz oder die Freiheit der Medien, der Wissenschaft oder der Kunst einschränken. Letztlich hängt die Geltung davon ab, ob die Bürger und Bürgerinnen an die Verfassung „glauben“, sie als die ihre ansehen, sie auch nutzen, um sie damit lebendig werden zu lassen. Demokratische Verfassungen ermöglichen, nein: Sie garantieren Teilhabechancen für alle Bürger, unabhängig von Geschlecht, Religion, Überzeugung und Herkunft. Es ist Aufgabe der staatlichen Institutionen, diese Chancen auch institutionell, in Bildung, Arbeit, Wohnen und Kultur, zu gewährleisten. Insofern ist Integration, auch die von Zugewanderten und Geflüchteten, immer auch eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.

 

Verfassungen sind immer auch Speicher politischer Wert- und Ordnungsvorstellungen – solcher, die tradiert, solcher, die als Lektion aus der Geschichte erlernt und solcher, die erkämpft und errungen worden sind. Das war in Deutschland nach 1945 so, ebenso nach 1989, und auch solche großen gesellschaftlichen Konflikte, wie sie in den 1970er Jahren in Westdeutschland auf dem Boden der Verfassung ausgetragen wurden, graben sich in das kollektive Gedächtnis ein. Sie zu erinnern, ist Aufgabe einer lebendigen Verfassung. Dazu braucht es Orte, Rituale und Erlebnisse. Gedenktage sind Anlass zum Innehalten, aber auch zur Selbstvergewisserung. Sie sind notwendig, vor allem ein Verfassungstag – der 23. Mai als republikanischer Feiertag – täte dringend not. Die Etappen der Freiheits- und Verfassungskämpfe lassen sich an Erinnerungsorten vergegenwärtigen. Deutschland übt sich hier in Memorialaskese. Das Freiheits- und Einheitsdenkmal lässt bis heute auf sich warten. Und wo ist das Verfassungszentrum, ein Museum, in dem deutsche Verfassungsgeschichte, die Kämpfe, die Konflikte, die großen, herausragenden Momente der konstitutionellen Entwicklung sicht- und erlebbar werden? Das National Constitution Center in Philadelphia, der Ort, an dem die heute noch gültige Verfassung der USA von 1787/88 geschrieben wurde, kann als Vorbild dienen. Dort wird Verfassungsgeschichte lebendig und nacherlebbar. Ein solches deutsches Verfassungsmuseum würde zum Ort der repräsentationskulturellen Symbolisierung zentraler Grundlagen der erkämpften und gelebten demokratischen Ordnung. Es wäre ein entscheidender Beitrag zur Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhaltes.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 04/2019.

Hans Vorländer
Hans Vorländer ist Inhaber des Lehrstuhls für Politische Theorie und Ideengeschichte und Direktor des Zentrums für Verfassungs- und Demokratieforschung an der TU Dresden.
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