Von der nationalstaatlichen zur paneuropäischen Kultur

Eine neue politische Ära beginnt

Er lächelt die Welt an, auch wenn er friert, viel zu früh auf den Champs-Élysées herumsteht und wegen einem Übermaß an kosmetischen Behandlungen kaum wiederzuerkennen ist. Dennoch hat Jack Lang immer gute Laune. Auch, weil er noch erkannt wird an diesem Tag im Oktober 2021, an dem die Verhüllung des Arc de Triomphe durch Christo und Jeanne-Claude in einer Pressekonferenz erläutert wird. Man begrüßt ihn, bedankt sich und strahlt ihn an und Jack Lang strahlt zurück. Die erste große Aktion von Christo und Jeanne-Claude, die Verhüllung der Pont Neuf 1985, wäre ohne ihn nicht möglich gewesen.  

 

Als Kulturminister von François Mitterrand sorgte er für einen Aufbruch von historischen Dimensionen. Die Ära Mitterrand wäre ohne sein Wirken ein wesentlich düsteres Kapitel. Er genehmigte die Einführung des privaten Rundfunks in Frankreich, förderte Comics und Zirkuskünste, gründete unendlich viele Institutionen und steckte mit seiner Begeisterung für alles Schöne, Kühne und Moderne das ganze Land an. Dabei ließ er sich nicht in ein hochkulturelles Kämmerlein einsperren, sondern freute sich, jeden durch Paris reisenden amerikanischen Filmstar mit hohen Orden für die Verdienste um Kunst und Kultur auszuzeichnen.  

 

Als seine Amtszeit sich dem Ende näherte, Mitterrand mit einer konservativen Regierung zusammenarbeiten musste, ließ Jack Lang Plakate drucken in leuchtenden Farben, mit seinem gezeichneten, strahlenden Gesicht und einer Mut machenden Botschaft: Bewahrt die Sonne im Herzen! 

 

Lang ist das prägendste Beispiel für die transformative Kraft einer inspirierenden, mutigen Kulturpolitik. Er trug dazu bei, dass sich die französische Gesellschaft modernisierte und eine fortschrittliche Eleganz an den Tag legte, von der die Luxus- und Tourismusindustrie des Landes bis heute leben, ein Motor der französischen Wirtschaft. Deutsche Kulturpolitik ist davon leider weit entfernt. Bei allen Vorzügen und unbestreitbaren historischen Leistungen – die Ära Merkel zeichnete sich durch eine solide Ausstattung der deutschen Kulturlandschaft aus, aber nicht durch Innovation und Inspiration. Symbol dieser Jahre wird das konzeptionell so verunglückte Humboldt Forum bleiben, dessen Akzeptanz durch Bevölkerung und Touristen noch aussteht.  

 

Nun eröffnen sich durch die neuartige Koalition neue Möglichkeiten, eine völlig neue politische Ära beginnt. Auch die Kulturlandschaft verändert sich rasant und durch die Pandemie wurde es noch einmal beschleunigt: Ohne Kultur sind Lockdowns und ähnliche Maßnahmen kaum zu überstehen, aber die digitalen Angebote sind nicht allen gleichermaßen zugänglich. Und der essenzielle Bereich der Präsenzveranstaltungen, der Theater, Konzerte und Kleinkunst muss entsprechend umgestaltet werden, braucht Hilfe und Ansprechpartner. Doch mehr noch als eine umfassende Branchenpflege ist eine politische Neugier nötig und damit verbunden auch die Bereitschaft zum Risiko. Die Debatten, die sich in den sozialen Netzwerken verstecken oder in entlegenen Ecken mancher Feuilletons – etwa über deutsche Identität, den systemischen Rassismus oder über sich verändernde, respektvolle Sprache – müssen wieder auf die große Bühne der Bundespolitik und des Deutschen Bundestages. Die wichtigste Aufgabe ist freilich, die europäische Dimension kulturell zu erschließen und zu institutionalisieren. Da Deutschland eine Kulturnation war, lange bevor es zu einem Nationalstaat wurde, ist gerade die deutsche kulturelle Tradition gut dazu geeignet, den Übergang von einer nationalstaatlichen zu einer paneuropäischen Kultur zu beginnen. Zwar gibt es mit dem Fernsehsender Arte ein ambitioniertes, deutsch-französisches Kulturangebot, aber es handelt sich um ein Nischenangebot, das leider ohne große, verbindende Liveformate und Eventprogramme auskommt.  

 

Wichtig wäre es, populäre Formen wie die große Samstagabendshow auf eine größere, europäische Bühne zu bringen. Es ist erschütternd, wie gerade eines der wenigen letzten großen europäischen Momente, das Eurovision Song Festival, Jahr um Jahr liebloser abgewickelt wird. Es ist ein einzigartiger Moment, eine europäische Chanson- und Liedermachertradition weltweit zu präsentieren, aber das scheint niemanden zu kümmern. Man sendet einfach irgendwas. Die Performer sehen aus, als habe sie der Verlust einer Wette genötigt, hier teilzunehmen, außerdem wirken alle erleichtert, wenn die Sache vorüber ist.  

 

Aber das ist nur ein Aspekt, um den sich eine künftige Kulturpolitik kümmern sollte. In einem größeren Rahmen wäre daran zu denken, ob man nicht dem kanadischen Beispiel einer aktiven staatlichen Kulturförderung folgt und sich einige Instrumente überlegt, mit denen die Entwicklung der europäischen Kultur auch im Zeitalter der mächtigen digitalen Plattformen garantiert werden kann. Es wäre diskussionswürdig, europäische Quotenregeln zu prüfen, die öffentliche Fernseh-und Radiosender dazu verpflichten würden, europäischen Produktionen einen definierten Anteil am Programm zu reservieren. Länder wie Italien oder Spanien sind zu klein, um etwa eine Filmindustrie wirksam zu unterstützen, die Ausstrahlung ihrer Serien erfolgt heute über Plattformen wie Netflix – das sollte die Europäische Union nicht einfach hinnehmen, sondern vielmehr überlegen, wie ein europäisches Publikum auch an europäische Produktionen kommt. Aber das scheitert derzeit selbst noch im linearen Fernsehen: Die Serie, über die ganz Frankreich spricht, ist in Deutschland völlig unbekannt, während jede Netflix-Produktion rauf und runter beworben wird.  

 

Das wesentliche Feld der Kultur könnte die europäische Realität entscheidend prägen, in dem es Neugier weckt und selbst demonstriert, das ganze Mosaik europäischer Kulturschaffenden betrachtet und wertschätzt und nicht zuletzt in einem ambitionierten europäischen Prozess institutionell verteidigt. Letztlich ist es keine Sache der Zuständigkeiten und nicht einmal des Budgets, sondern vor allem der persönlichen Interessen, der Neugier und der Ambition einer politischen Persönlichkeit, der oder die für Sonne im Herzen sorgen kann. 

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 12/2021-01/2022.

Nils Minkmar
Nils Minkmar war Redakteur bei "Willemsens Woche"und schreibt für verschiedene deutsche Feuilletons, aktuell für die Süddeutsche. Er hat einen deutschen und einen französischen Pass.
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