Schluss mit „Freiheit gegen Prekarität“

Rahmenbedingungen für freies Arbeiten verbessern

Als Angela Merkel im November 2005 das Amt der Bundeskanzlerin übernahm, war ich gerade einmal 17 Jahre alt und hatte mit Kulturpolitik ehrlich gesagt noch nichts am Hut. Mein eigenes kulturpolitisches Engagement begann erst“ vor ca. sechs Jahren. Seitdem dreht sich meine Arbeit insbesondere um die Verbesserung der Rahmenbedingungen für freies Arbeiten in der Kulturbranche. Und das Thema Rahmenbedingungen“ ist es auch, das mich bei einem Blick zurück auf die Kulturpolitik unter Merkel aufhorchen lässt. Denn während es positiv hervorzuheben ist, dass der Kulturhaushalt des Bundes kontinuierlich gestiegen ist, ist bei der Entwicklung der rechtlichen Rahmenbedingungen relativ wenig passiert. Die Coronapandemie war hier der Schlag ins Gesicht, der uns flächendeckend die Fragilität insbesondere der freien Kulturszene und die kulturpolitischen Versäumnisse der letzten Jahre vor Augen geführt hat.  

 

Die Aufgabe der neuen Bundesregierung wird es deshalb sein, die Verbesserung der rechtlichen Rahmenbedingungen für selbständiges Arbeiten in der Kunst- und Kulturbranche zur zentralen kulturpolitischen Agenda zu machen. 

 

Damit dies gelingen kann, brauchen wir aber zunächst eine neue Übereinkunft. Denn freie Künstlerinnen und Künstler sind in ihrem Arbeitsalltag immer noch mit Unwissen über ihr Berufsbild konfrontiert. Fragen wie Und was machen Sie hauptberuflich?, zeigen deutlich die verzerrte Wahrnehmung von freier Arbeit. Das muss sich ändern: Denn selbständige Künstlerinnen und Künstler sind professionelle und hoch qualifizierte Kulturschaffende, die mit ihrer Kunst ihren Lebensunterhalt verdienen. Ihre Kunst ist ihre Arbeit, ihr Broterwerb und nicht irgendeine Liebhaberei, der sie außerhalb eines bürgerlichen“ NinetoFive-Jobs nachgehen. Sie sind nicht selbständig, weil sie es nicht in eine Festanstellung geschafft haben, sondern weil sie sich bewusst für diese Form der Arbeit entschieden haben. Gleichzeitig ist Selbständigkeit für manche Kulturberufe auch einfach spezifisch – oder wann haben Sie zuletzt eine sozialversicherungspflichtig angestellte Komponistin gesehen? 

 

Die Motivationen für die Wahl der Hauptberuflichkeit in der Selbständigkeit sind dabei vielfältig und individuell: Größere Selbstbestimmung, künstlerische Freiheit und die Suche nach dem Experiment, organisatorische Flexibilität, unternehmerische Energie seien hier beispielhaft genannt. Und unsere Kulturbranche braucht diese freien Künstlerinnen, Künstler und Organisationen, denn gerade der freien Szene entspringen wichtige kulturelle Innovationen. Hier werden Experimente gelebt, neue Wege abseits des Gewohnten betreten, alternative Organisationsstrukturen ausprobiert und gesellschaftliche Transformationsprozesse engmaschig reflektiert. 

 

Klingt auf den ersten Blick doch erst mal toll! Wer wünscht sich das nicht? Doch auf den zweiten Blick wird klar: Selbständige Künstlerinnen, Künstler und Kulturschaffende zahlen dafür einen hohen Preis. Denn mit Selbstbestimmung, künstlerischen Freiheiten und Flexibilität gehen in der Regel eine fehlende soziale Absicherung, Altersarmut, schlechte Bezahlung und veraltete rechtliche Rahmenbedingungen einher. Oder um es in den Worten von Carsten Brosda aus dem VAN Magazin vom März 2020 zu sagen: Man kauft sich die Freiheit mit der Prekarität, das war der bisherige Deal.“ 

 

Schluss damit! Es wird Zeit für einen neuen Deal! Wir müssen die Gleichung Freiheit gegen Prekarität“ hinter uns lassen.  

 

Eines der wichtigsten Themen ist dabei die Verbesserung der katastrophalen Einkommenssituation selbständiger Kunst- und Kulturschaffender. Denn unsere sozialen Sicherungssysteme stehen in einem engen Wechselspiel zum individuellen Einkommen. Zum Beispiel bei der gesetzlichen Altersvorsorge – wer mehr verdient, zahlt mehr ein und bekommt am Ende in der Regel auch mehr raus. Der Bund muss hier mit gutem Beispiel vorangehen: Es gilt, im Dialog mit den Kulturverbänden der freien Szene Honorarstandards zu entwickeln, mindestens bei öffentlichen Förderprogrammen verpflichtend einzuführen und laufend anzupassen. Dabei müssen die Honorarstandards die Arbeitsrealität selbständiger Arbeit abbilden – hierzu zählen unter anderem die Finanzierung von Urlaubs- und Krankentagen, Akquise- und Organisationsaufwand, Ausfallrisiken, Beiträge zur Alterssicherung und anderem. Gleichzeitig müssen die Förderprogramme entsprechend aufgestockt werden, denn die Zahlung angemessener Honorare darf nicht dazu führen, dass am Ende einfach weniger Projekte gefördert werden. 

 

Im Zuge der Pandemie mussten und müssen wir aber auch erfahren, dass das Einkommen selbständiger Künstlerinnen und Künstler von heute auf morgen zusammengebrochen ist. Nur in seltenen Fällen wurden Ausfallhonorare gezahlt, das Kurzarbeitergeld greift nicht, Arbeitslosengeld auch nur in den seltensten Fällen, weil sich die wenigsten in der Arbeitslosenversicherung versichern können. Unsere Systeme der sozialen Absicherung gehen auch hier vom sozialversicherungspflichtigen Normalarbeitsverhältnis aus; Definitionen in unseren Gesetzbüchern greifen zu kurz und verkennen die Arbeitsrealitäten und Bedarfe selbständiger Arbeit. Die bessere Absicherung von Situationen von Einkommenslosigkeit muss demnach auch auf die To-do-Liste der Bundesregierung.  

 

Hinzu kommen zahlreiche, nicht weniger wichtige oder komplexe Baustellen, wie die Stärkung und Reform des Künstlersozialversicherungsgesetzes, Fragen der internationalen Besteuerung, Fragen der Rücklagenbildung im Zuwendungs-, Gesellschafts- und Gemeinnützigkeitsrecht etc. 

 

Zahlreiche Kulturverbände haben sich mit diesen Punkten und vielem mehr bereits intensiv auseinandergesetzt, Informationen und Hintergrundwissen gesammelt, Konzepte und Ideen entwickelt. Ich wünsche mir, dass die neue Bundesregierung bei der Bewältigung ihrer herausfordernden Aufgaben auf diese Expertise zurückgreift und den intensiven Dialog sucht. Damit wir beim Rückblick auf die Legislaturperiode des 20. Bundestags sagen können: Yes! Wir haben die Gleichung Freiheit gegen Prekarität“ hinter uns gelassen; wir haben einen neuen Deal!  

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 12/2021-01/2022.

Lena Krause
Lena Krause ist Geschäftsführerin von FREO – Freie Ensembles und Orchester in Deutschland und Sprecherin der Allianz der Freien Künste.
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