Zwischen Lockdown und Lockerung

Wie die Corona-Krise den professionellen Orchester- und Konzertbetrieb trifft

Seit Mitte März 2020 ist bundesweit der Musikbetrieb zum Erliegen gekommen. Der durch das Coronavirus bedingte Aufführungsstopp betrifft alle gleichermaßen: Konzert- und Opernhäuser, öffentliche und private Veranstalter, Kirchen und Clubs, Klassik ebenso wie Rock und Pop. Der brutale, maximale Einschnitt in eine äußerst lebendige und vielfältige Szene ist der größte seit Einstellung des Spielbetriebs von Orchestern und Theatern im zu Ende gehenden Zweiten Weltkrieg im September 1944.

 

Der Bundesverband der Veranstaltungswirtschaft schätzt den Schaden für 2020 auf 5,5 Milliarden Euro. Eine Summe, die nicht unrealistisch ist, denn inzwischen sehen sich alle öffentlichen und privaten Konzertveranstalter mit dem abrupten, vorzeitigen Ende der Saison 2019/20 konfrontiert. Auch immer mehr Festspiele und Festivals haben die Hoffnung für einen regulären Sommerbetrieb aufgegeben, allen voran die Bayreuther Festspiele und das Schleswig-Holstein Musikfestival. Mehrere Hundert Musikfestivals in Deutschland bieten jedes Jahr zahlreiche Auftrittsmöglichkeiten für Orchester, Kammermusik und sonstige Gruppen. Auf einen Schlag alles weg. Ebenso trifft es große, beliebte Open-Air-Veranstaltungen aller Stilrichtungen von den Berliner Philharmonikern in der Waldbühne über Klassik Open-Air in Nürnberg, Leipzig, München oder Berlin bis zum längst ausverkauften Rockfestival in Wacken.

 

Während die rund 10.000 fest angestellten Mitglieder der Konzert- und Theaterorchester und Klangkörper des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zunächst sozial halbwegs abgesichert sind, teilweise auch über befristete Kurzarbeit, ist der Einschnitt für die über 54.000 in der Künstlersozialkasse registrierten freiberuflichen Musikerinnen und Musiker umso dramatischer. Von heute auf morgen brachen ihnen alle Einnahmequellen gleichzeitig und für mehrere Monate weg: keine öffentlichen Auftritte mehr, keine Unterrichtstätigkeit mehr an Musikschulen und Musikhochschulen oder im privaten Bereich, keine Aushilfstätigkeiten bei Berufsorchestern, Absagen aller Kirchenkonzerte und sonstigen Auftritte. Bund und Länder haben zwar mit verschiedenen Programmen versucht, Freiberuflern und Soloselbständigen zu helfen. Doch entweder waren die Töpfe bald leer oder gingen an den besonderen Bedingungen freischaffender Musikerinnen und Musiker vorbei. Hier ist zu hoffen, dass das angekündigte Nachsteuern der Kulturminister der Länder und der Kulturstaatsministerin noch zu Verbesserungen führt.

 

Während es in bestimmten Bereichen von Gesellschaft und Wirtschaft nach mehrwöchigem Lockdown seit Ende April erste Lockerungen gibt, wartet der gesamte Musikbereich hierauf noch sehnsüchtig. Mutig und zuversichtlich – was bleibt auch anderes übrig? – verkünden Orchester, Konzert- und Opernhäuser ihre Pläne für die Spielzeit 2020/21. Kein Veranstalter kann jedoch Anfang Mai sicher prognostizieren, wie es ab September wirklich weitergeht. Können internationale Dirigenten und Solisten bis dahin wieder reisen? Sind Konzertreisen und Tourneen wieder möglich? Haben wir einen Plan B? Eine große Herausforderung für die künstlerisch Verantwortlichen, für Marketing und Kartenvorverkauf. Solange es kein wirksames Medikament und keine Impfung gegen das Coronavirus gibt, ist weiter mit Beschränkungen zu rechnen. Diese betreffen sowohl den präventiven Schutz des Publikums, aber auch den der Ausführenden. Während man für das Publikum bestimmte Hygiene-Vorkehrungen, Einlass- und Abstandsregeln umsetzen kann, ist das auf der Bühne ungleich schwieriger. Orchester und Chor auf der Bühne, aber mit Mundschutz? Vor allem für Bläser und Sänger kaum vorstellbar. Orchestermitglieder im engen Graben des Opernhauses? Ballett und Chorsänger in Aktion auf der Bühne? Diese Unsicherheiten und Fragen bereiten allen Beteiligten gegenwärtig große Sorgen. Denn eines ist klar: Für ein paar Monate lässt sich der Lockdown irgendwie überbrücken, für eine ganze Spielzeit eben nicht. Die gleichen Fragen und Probleme betreffen auch alle Akteure der freien Szene, den Profi- wie den Laienbereich, unabhängig von der jeweiligen musikalischen Stilrichtung.

 

Wenn man den zahlreichen Herausforderungen der Corona-Krise etwas Positives abgewinnen will, dann das:

  1. In der großen Solidaraktion #MusikerNothilfe der Deutschen Orchester-Stiftung unter Schirmherrschaft von Kulturstaatsministerin Monika Grütters und Dirigent Kirill Petrenko wurden von Orchestern, Solisten aus Klassik, Pop und Jazz, Dirigenten, Publikum und Musikliebhabern innerhalb von nur fünf Wochen über 1,3 Millionen Euro gesammelt und an besonders betroffene freischaffende Musikerinnen und Musiker aller Stilrichtungen ausgezahlt. Diesen Zusammenhalt, diese Solidarität, dieses Bewusstsein innerhalb der professionellen Musikszene und ihren Wert für die Gesellschaft auch nach der Krise als Chance zu nutzen, ist eine große, aber auch schöne Herausforderung.
  2. Erstmals scheint einer breiteren Öffentlichkeit bewusst geworden zu sein, auf wie viel Selbstausbeutung und Prekariat freischaffender Musikerinnen und Musiker ein lebendiges Musikleben in Deutschland eigentlich beruht. Auch diese Erkenntnis gilt es, nach der Krise in konkretes politisches Handeln zur besseren sozialen Absicherung und für intelligentere Förderprogramme in der freien Szene umzusetzen. Hierfür bedarf es eines konstruktiveren Dialogs zwischen Bund und Ländern als in der Vergangenheit.

Der Beitrag ist zuerst in Politik & Kultur 5/20 erschienen.

Gerald Mertens
Gerald Mertens ist Geschäftsführer der Deutschen Orchestervereinigung.
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