Zurück in die Zukunft?

Wie lebt es sich in der Post-Corona-City?: Ausblick auf die Stadt nach der Krise

Wenn die Corona-Pandemie vorbei ist, kehren Gesellschaft und Architektur dann zum Ausgangspunkt von 2020 zurück oder wird die Entwicklung beweisen, dass nicht jeder Trend reversibel ist? Wird es eine Post-Corona-Architektur geben? Hat das Arbeiten im Homeoffice so viele Freunde gewonnen, dass sich die großen Bürohäuser zu Wohnhäusern umnutzen ließen?

 

Leere Geschäfte und Büros, aber volle Radwege: Die Coronakrise hat die europäischen Innenstädte verändert. Warenhäuser, Malls und Einkaufsstraßen sind leergefegt. Ein Drittel aller Nicht-Lebensmittelhändler ist ökonomisch bedroht, die Innenstädte veröden. Die Stadt als Einkaufs- und Bürostandort verliert an Bedeutung. Wird der durch den boomenden Internethandel bewirkte Ladenleerstand dazu führen, dass wieder mehr Wohnungen in der Innenstadt geschaffen werden? Bietet die Krise also Chancen zur Belebung der Innenstadt? Wenn die Innenstadt als Wohnort wiederentdeckt wird, muss soziale Infrastruktur wie Schulen und Kitas folgen.

 

Das Homeoffice hat durch die Pandemie einen Durchbruch erlebt. Über 70 Prozent der Deutschen arbeiten laut Eigenaussage gern von zu Hause aus. In Folge der Pandemie werden deshalb viele Bürogebäude von Leerstand bedroht sein. Unflexible Grundrisse werden den Ansprüchen der modernen Arbeitswelt und dem Image vieler Firmen nicht mehr gerecht. Der Rückgriff auf vorhandene Gebäude könnte zu Entspannung im Wohnungsmarkts führen, ohne dass nachverdichtet werden muss und Grünflächen bebaut werden. Bürogebäude eignen sich gut zur Umnutzung in Wohnraum, da sich Gebäudetiefe und Raumhöhe meist nicht von Wohngebäuden unterscheiden. Durch Teilabbrüche, Aufstockungen und Modernisierungen können so ineffiziente Bürogebäude in effiziente Wohngebäude umgewandelt werden.

 

Die Krise hat bewiesen, dass Büroarbeit nicht in der Innenstadt stattfinden muss. Videokonferenzen und digitales Arbeiten haben teilweise Tauglichkeit bewiesen und Großraumbüros sind unattraktiver geworden. Werden künftig nur noch vereinzelte Treffen oder Projektarbeiten, bei denen man sich in die Augen schauen will, in Büros abgehalten? Ist die tägliche Anwesenheit aller Beschäftigten an einem Ort unnötig geworden? Wenn das Home/Office der Zukunft angenehm sein soll, gehört ein wohngesundes Umfeld und ein ergonomischer Arbeitsplatz dazu.

 

Angesichts von flächendeckendem Homeoffice und Homeschooling-Gebot in Deutschland wurde deutlich, wie wichtig Wohnumfeld, Nahversorgung, Parks und städtische Plätze sind. Grünanlagen und öffentliche Räume machten die Pandemie erträglicher. „Pop-Up-Straßenlokale“ und „Pop-Up-Radwege“ wurden zu interessanten Beispielen des „taktischen Urbanismus“. Innenraumfunktionen dehnen sich in den Außenraum aus. Das lange propagierte Ziel der „Stadt der kurzen Wege“ ist hingegen in eine Krise geraten: Vorbehalte gegenüber Dichte in Städten sind gewachsen. Die Sorge um Hygiene und Gesundheit könnte zur Rückkehr nach Suburbia führen.

 

Auswirkungen auf die Architektur

 

Schlaglichtartig hat die Gesundheitskrise gezeigt, wie wichtig gut gestaltete Freiräume in Städten und direkt vor der (Balkon-)Tür als Dachgärten, Balkone, Loggien und Sky-Gardens sind – und wie essenziell es ist, auch mit den Mitteln der Architektur Generationen zusammenzubringen. Die deutsche Bevölkerung wird im Jahr 2040 im Durchschnitt 48 Jahre alt sein. In der Architektur driften Jung und Alt auseinander und leben in „Bubbles“. Mehrgenerationen-Wohnen ist deshalb ein neuer Typus, der im Ein- oder Mehrfamilienhaus seinen Ursprung fand, in dem Großeltern, Eltern und Kinder zusammengewohnt haben. Die Vereinsamung schreitet voran, die Wohnfläche pro Kopf ist hoch und es herrscht eine Diskrepanz bei Angebot und Nachfrage von Wohnraum. Beim „integriertem Wohnen“ leben Junge und Alte, Familien und Alleinstehende in einer Wohnanlage zusammen. Es wirkt gegen die Individualisierung und Vereinsamung im Alter. Dieses Zusammenführen von Menschen in unterschiedlichen Lebenslagen soll nachbarschaftliche und soziale Kontakte anregen als Antwort auf die Individualisierung und den demografischen Wandel.

 

Freiflächen als neues Facebook – Der öffentliche Raum im 21. Jahrhundert

 

Heute ist zwar jedermann durch Technologien und soziale Medien miteinander verbunden, aber echte Interaktion findet seltener statt. Große öffentliche Räume waren vor der Pandemie die Orte, an denen Feste gefeiert wurden, sozialer und wirtschaftlicher Austausch stattfindet, Freunde aufeinandertreffen und Kulturen sich vermischen. Wenn öffentliche Räume gut funktionieren, dienen sie als Bühne des Lebens. In Zeiten der Pandemie gewannen Freiflächen in der Stadt an Bedeutung, denn für viele sind sie die einzige Möglichkeit für soziale Interaktion. Es sind die öffentlichen Räume, die eine Stadt und ihre Lebensqualität ausmachen. Funktionierende öffentliche Räume tragen dazu bei, dass Mechanismen, die sonst auf Facebook und Co. stattfinden, auch in der Realität funktionieren.

Die Architektur heute ist fest im Griff der Pandemie. Die Zunahmen der Single-Haushalte in Deutschland und das Ende des sozialen Wohnungsbaus trieben Architekten und Bauherren – und die ganze Gesellschaft – um. Baugruppen haben sich als neue, erfreuliche Form von Bauherrenschaft für moderne Wohnformen etabliert. Die Wiederentdeckung von Holz als tragendem Baumaterial auch für städtische Bauaufgaben und die Renaissance des modularen Bauens sind Trends, die Städte in Zukunft stärker prägen werden. Dem Ziel, Niedrig-, Null- oder sogar Plus-Energiehäuser zu bauen, kommen Entwerfer näher. Licht, Luft und Sonne – dieser Schlachtruf der Moderne wird heute auf angenehmes Tageslicht und gute Raumluft bezogen. Neue Entwürfe verwischen die Grenzen zwischen Gebäude und Landschaft. Dächer und Fassaden selbst können Vegetation tragen und mit „grünen Haaren“ Kühle, Habitat und Feinstaubfilterung in Städten befördern.

 

„Grüne“ Gebäude müssen nicht „grün“ aussehen, um eine gute Umwelt-Performance zu haben. Nutzungsneutralität von Grundrissen spielen ebenfalls eine wichtige Rolle für langlebige Gebäude. Platzsparend zu wohnen ist nur sinnvoll, es kann angesichts des Bedürfnisses nach Abstand in Städten auch hygienisch geboten sein. Angesichts knapper Mittel und Ressourcen sind kostengünstiges Bauen und das Recycling von Bauteilen Gebote der Stunde. Würde der massenhafte Einsatz von intelligenten Baustoffen und -komponenten die Probleme vergrößern oder lösen helfen? Liegt im autochtonen Bauen, das aus dem örtlichen Klima und Material schöpft, ein Schatz, den es zu heben gilt, oder ist das eine romantische Vorstellung? Natur gilt mehreren Ansätzen der Post-Corona-Architektur als Vorbild: Manche ergreifen die Flucht aus der Dichte der Stadt aufs Land. Verschwendung und Müll kennt der natürliche Kreislauf nicht. Ließe sich auch in der Architektur ein Weg von der Wiege bis zur nächsten Wiege finden? Sind Verzicht und Subsistenz gangbare Wege für das Wohnen in der Stadt im Tiny House oder mit Selbstversorger-Garten auf dem Dach oder hinter dem Haus?

 

Krankheit und Architektur

 

Als vor hundert Jahren die Moderne in der Architektur ihren weltweiten Siegeszug begann, gehörten Krankenhäuser und Sanatorien zu ihren überzeugendsten Bautypen. Denn hier zeigte sich, dass die streng geometrischen Gebäude mit ihren Glasfassaden für üppiges Tageslicht, weißen Räumen und breiten Dachterrassen zum Kampf gegen die Tuberkulose taugten. Sie wurden konzipiert, um Genesung zu fördern, die Architektur war selbst Teil der Heilung, ein medizinisches Instrument. Die schnelle Verbreitung der modernen Architektur war auch eine Folge der Angst vor Krankheiten. Weiße Wände, kahle Böden und saubere Metallarmaturen standen für Sauberkeit und Hygiene. Auch nachdem der Tuberkulose-Impfstoff die Pandemie zum Ende brachte, blieb der Zusammenhang zwischen Moderne, die als „Krankenhausarchitektur“ erblühte, und Gesundheit und Hygiene bestehen.

 

Im Gegensatz zur luftigen Leere der Moderne wird der für die Corona-Quarantäne benötigte Raum defensiv gestaltet. Klebebänder und Plexiglaswände unterteilen die Welt in kleine Zonen, weite Räume werden vermieden. Durch die Quarantäne haben Bewohner die Grenzen ihrer Wohnungen genauer kennengelernt. Akustische Privatsphäre ist wichtiger geworden, wenn die Familie den ganzen Tag in einer Wohnung zusammenlebt. Das Loft-Living hat seinen romantischen Touch eingebüßt – wegen des Mangels an Privatsphäre und Möglichkeiten, in einen anderen Raum zu ziehen.

 

Wenn Bars, Cafés und Geschäfte keinen Ausweg bieten, werden die Grenzen des eigenen Zuhauses umso spürbarer. Es gibt nur noch privaten oder öffentlichen Raum, aber kein Zwischenprodukt. Die Quarantäne macht uns zu Entdeckern des Vertrauten. Für die Stadtbewohner des 21. Jahrhunderts bilden Kopfhörer, Smartphone, Laptop und Ladekabel das Existenzmaximum.

 

Die kollektive Erfahrung, monatelang im Haus zu bleiben, beeinflusst die Zukunft der Architektur. Nicht die saubere, weiße Glätte der Moderne, sondern ein Versteck, das voller Erinnerungen an den Rest der Welt ist, dient als Raum für den sozialen Winterschlaf.

 

Anstatt die hygienische Moderne zu reproduzieren, zieht die „1,5-Meter-Gesellschaft“ improvisierte Linien und Barrieren.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 3/2021.

Ulf Meyer
Ulf Meyer ist Architekturjournalist und Autor des Buches „Cities of the Pacific Century“.
Vorheriger ArtikelWichtige kulturelle Substanz
Nächster ArtikelWas tun die Länder?