„Wir brauchen Scham und Ironie“

Ulrich Khuon im Gespräch

Weil Sie sie brauchen?

Es gibt mehr Menschen, die Kunst machen wollen als an Theatern, Konzert- und Opernhäusern spielen können. Aber das darf man nicht ausnutzen. Die tiefe Zerstrittenheit von etablierten Häusern und der freien Szene in den 1990er Jahren war unfruchtbar und zerstörerisch. Das haben wir gemeinsam verbessert. Heute ist es viel durchlässiger. Wir müssen daran arbeiten, schnell wieder dahin zu kommen.

 

Welche finanziellen Auswirkungen hat die Schließung für Ihr Haus?

Wir haben deutlich weniger eingenommen. Dafür haben wir eine Ausgleichszahlung vom Berliner Senat bekommen. Es gibt jedoch Häuser, z. B. in München – à propos Söder –, denen mitgeteilt wurde, dass sie weniger Zuschuss bekommen. Wir werden die Folgen der Pandemie noch über Jahre spüren. Wir müssen um jedes Haus kämpfen. Die großen sind nicht gefährdet. Umso wichtiger ist, auch nach Kiel, Konstanz oder Dessau zu schauen.

 

Welche Erfahrungen nehmen Sie mit aus dem Lockdown? Was werden Sie auch in Zukunft nutzen?

Neugier und Beweglichkeit. Die sind immer gefragt, aber in den Routinen werden sie oft verschüttet. Mit unseren Streams, die immerhin kostenpflichtig sind, haben wir ein Publikum erreicht über Berlin hinaus, das wir sonst nicht bekommen würden. Das merken wir auch an den Reaktionen. Nicht mehr, als wenn wir real spielen würden, aber es spricht sich rum. Wir haben digitale Abendaufführungen gemacht mit Nachgesprächen über Zoom, mit einer ungeheuren Resonanz. Viele Theater haben diese digitale Beweglichkeit nicht nur als Notnagel entdeckt, sondern als Option erkannt, ästhetisch wie strukturell. Wir haben gelernt, Routinen zu durchbrechen. Das werden wir nicht wieder verlernen.

 

Aber es ersetzt nicht die festen Häuser?

Nein, das ist, als wenn man an einem künstlichen Herz hängt. Das eigentliche Herz schlägt woanders. Aber selbst Opernintendanten, die sonst drei Jahre an einer Aufführung arbeiten, haben gesagt, mal schnell reagieren zu müssen, hat etwas Erfrischendes.

 

Verändert es die Ästhetik des Theaters, wenn man für ein Online-Publikum inszeniert?

Bei einigen Aufführungen haben wir uns sehr ans Filmische angenähert, bei anderen nicht. Da hat sich die Spielweise nicht verändert. Schauspieler spielen nicht anders, wenn sie kein Publikum haben, aber sie sind befreiter, wenn es wieder atmet.

 

Das Virus wird bleiben, es kann jederzeit eine neue Pandemie kommen. Werden Sie auf Dauer mit Hygieneregeln arbeiten müssen? Oder hoffen Sie, dass das irgendwann entfällt?

Ich bin da nicht so pessimistisch. Wenn wir alle durchgeimpft sind, wird es vielleicht im nächsten Jahr wieder eine gewisse Normalität geben, mit halbwegs vollen Häusern. Doch es wird nicht alles weg sein. In der „Pest“ von Albert Camus verschwindet der Erreger irgendwann, aber er bleibt in den Ritzen und Vorhängen. Die nicht sichtbare Gefahr wird uns nicht verlassen. Eine Grunderfahrung des Menschen ist, dass Tod und Krankheit nie verschwinden. Wer einmal einen nahestehenden Menschen verloren hat, der wird das nicht wieder los. Der weiß, dass alles gefährdbar ist, von heute auf morgen, dass wir verletzlich sind. Die Scheinstärke hinter sich zu lassen, ist gut.

 

Werden Sie diese Erfahrungen, das Leid, die Vereinsamung, künstlerisch aufgreifen?

Selbstverständlich. Wir haben intern diese gemeinsame Erfahrung stark besprochen, Schmerz, Angst, Verzweiflung, auch mit Soziologen und Psychologen.

Als Intendant verstehe ich mich ein Stück weit auch als Seelsorger. Das Tolle ist: Wenn es keine Krisen gäbe, gäbe es keine Kunst. Sie ist das krisenverarbeitende Medium schlechthin. Auch die Komödie, das Lachen ist Trost. Wir brauchen, wie Michael Maar schreibt, Scham und Ironie, sonst sind wir Dampfplauderer.

 

Vielen Dank.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 3/2021.

Ulrich Khuon & Ludwig Greven
Ulrich Khuon ist Intendant des Deutschen Theaters in Berlin. Bis November 2020 war er Präsident des Deutschen Bühnenvereins. Ludwig Greven ist freier Publizist.
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