Nicht allein auf Improvisation bauen

Die Lage deutscher Jazzmusiker

Zum Glück können Jazzmusikerinnen und -musiker improvisieren.“ So etwas höre ich in letzter Zeit immer wieder. Obwohl derartige Bemerkungen auch von Menschen geäußert werden, die selbst Teil der Jazzszene und damit nicht verdächtig sind, uns Musikerinnen und Musikern Böses zu wünschen, so entbehrt dieses romantische Bild des „Lebenskünstlers“ angesichts der Corona-Pandemie doch nicht einer gehörigen Portion Zynismus.

 

Aus wissenschaftlicher, aus gesellschaftlicher – ja, sogar aus berufspolitischer Sicht mag es eine interessante Frage sein, ob Jazzmusikerinnen und -musiker, weil sie das Improvisieren gelernt und perfektioniert haben, besser mit der Coronakrise zurechtkommen als andere Menschen. Doch kann dies ernsthaft der Anspruch sein? Kann es der Anspruch einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft an sich selbst sein, dass eine ganze Berufsgruppe nur durch Improvisation über die Runden kommen kann? Sollten nicht gerade Menschen, die ihren ureigenen Beitrag zum gesellschaftlichen Miteinander zum Lebenszweck erheben, in schweren Zeiten auf die Solidarität der Gesellschaft zählen können – auf die Solidarität eben jener Gesellschaft, in deren Dienst sie sich stellen, und zwar Letzteres meist zum Preis der wirtschaftlichen Prekarität? Ganz abgesehen davon, ob die musikalische Improvisationskunst nicht am Ende vielleicht eben doch nur ein anspruchsvolles Handwerk ist, und keine „Lebenskunst“.

 

Fakt ist: Bei vielen Kunstschaffenden kommen die staatlichen Corona-Hilfen nicht an. Die Situation im föderalen Deutschland gleicht einer Lotterie – abhängig von der Meldeadresse greifen zum Teil völlig unterschiedliche Regeln und Rahmenbedingungen bei den finanziellen Nothilfen. Denn die nach wie vor völlig unzulänglichen Bundeshilfen werden erfreulicherweise aus Landesmitteln aufgestockt – nur eben nicht überall. Wer etwa in Baden-Württemberg oder Nordrhein-Westfalen gemeldet ist, kann von Glück reden und seine Lebenshaltungskosten im besten Fall aus den staatlichen Hilfen finanzieren. Die meisten anderen aber haben Pech gehabt und schauen aufgrund der in unserem Beruf kaum unmittelbar zuzuordnenden Betriebsausgaben in die Röhre.

 

Dieses Problem besteht natürlich nicht nur für Jazzmusikerinnen und -musiker, sondern betrifft spartenübergreifend alle diejenigen, deren unternehmerisches Handeln sich nicht auf Gewinnmaximierung, sondern Finanzierung eines kreativen Outputs fokussiert. Denn gerade in diesen Lebens- und Arbeitskonzepten sind finanzielle Rücklagen die Ausnahme und zugleich fliegen die meisten Akteurinnen und Akteure „unter dem wirtschaftlichen Radar“.

 

Die Lage ist dramatisch. In der Pandemie ist deshalb nicht nur spartenübergreifende, sondern mehr denn je internationale Solidarität gefragt. Eine aktuelle Umfrage zur Situation der Jazzmusikerinnen und -musiker in ganz Europa zeigt, dass wir alle im selben Boot sitzen: Europaweit spielt kaum noch jemand Konzerte, nur 40 Prozent der Befragten gehen davon aus, ihren Beruf mit Sicherheit weiter ausüben zu können.

 

Doch es gibt zumindest in einer Hinsicht Hoffnung. Angesichts der existenziellen Krise eines milliardenschweren Wirtschaftszweigs – nämlich der gesamten Kulturwirtschaft in Deutschland, in dessen Zentrum wir Kunstschaffenden und Kreativen stehen –, sehe ich auch in Politik und Gesellschaft ein neues Bewusstsein erwachen. Dieses neue Bewusstsein betrifft nicht allein den gesellschaftlichen Stellenwert von Kunst und Kultur (Stichwort „Systemrelevanz“), sondern auch die Lebensrealität von Hunderttausenden Soloselbständigen in Deutschland mit ihren höchst individuellen und oftmals hybriden Erwerbskonzepten. Und mit dem Bewusstsein wächst auch das Verständnis dafür, dass es maßgeschneiderte Lösungen für Kunst- und Kulturschaffende in der Coronakrise braucht, um eine dauerhafte Schädigung unserer stolzen Kulturnation abzuwenden. Mit einem „one size fits for all“-Ansatz ist jedenfalls kaum jemandem geholfen.

 

Wichtig erscheint mir mit Blick auf eine Zeit nach der Krise für den Jazzbereich vor allem eines: Die vielen kleinen, ehrenamtlich getragenen und aus kommunalen Mitteln finanzierten Veranstaltungsorte und Konzertreihen in unserer Szene müssen auch bei absehbar knapperen Gemeindekassen verlässlich finanziert werden. Denn nur so können wir Musikerinnen und Musiker wieder in die Lage versetzt werden, unsere Brötchen zu verdienen. Allein auf die hohe Kunst der Improvisation zu bauen, wäre wohl selbst für die schwer unterzukriegende Jazzszene ein Todesurteil.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 3/2021.

Urs Johnen
Urs Johnen ist Kontrabassist, Organisationsberater und Geschäftsführer der Union Deutscher Jazzmusiker e.V.
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