Die Corona-Pandemie und die weitreichenden Maßnahmen der Regierungen, die die Kultur über Gebühr einschränken, sind nicht nur Auslöser von Krisen, sondern lassen wie in einem Brennglas schon länger bestehende strukturelle Schieflagen des Kulturbereichs sichtbar werden. Wir leben in einer Zeit umfassender Transformationen, die wir auch in Konzepte von Kulturpolitik übersetzen und fruchtbar machen müssen. Carsten Brosda hat begonnen, „Notwendige Debatten nach Corona“, so der Untertitel seines aktuellen Buchs „Ausnahme/Zustand“, anzustoßen. Für die Kulturpolitik ist er noch vorsichtig und fokussiert auf die Leistungen der Kultur für die Gesellschaft, aber auch ihre Zweckfreiheit. Wichtig sei zudem auch künftig die Sicherstellung der notwendigen Rahmen- und Förderbedingungen. Dem kann man nur zustimmen, und es trifft den Ton in einer gerade für Künstlerinnen und Kulturakteure schwierigen Zeit. Ich möchte diesen Impuls aufnehmen und weiterführen.
Kulturpolitik sollte spätestens jetzt anfangen, die bekannten Großtrends des Wandels zur Setzung neuer Rahmenbedingungen für ihr Wirkungsgefüge zu nutzen. Wir werden nicht komplett in den Zustand vor der Pandemie zurückkehren können, nicht nur im Kulturbereich. Vielmehr beschleunigt die Pandemie die längerfristige Veränderung der kulturellen Infrastrukturen, und wir sind gut beraten, nach einer resilienten Kulturlandschaft zu fragen bzw. Konzepte für deren Herstellung zu entwickeln. Folgende Fragen stellen sich aus meiner Sicht gegenwärtig: Was vermissen die Menschen im Kultur-Shutdown tatsächlich elementar, wofür setzen sie sich ein? Welche Kultureinrichtungen oder Künstlerinnen schaffen es, den Draht zu ihren Nutzern zu halten? Welche Bedingungen dafür gab es, welche Methoden waren erfolgreich? Was hat das mit Resonanz und Innovation zu tun? Welche Modelle oder Rollenbilder wirkten oder versagten? Wie waren die wirtschaftlichen Bedingungen und rechtlichen Rahmensetzungen beschaffen, um reagieren zu können? Überhaupt: Ist Reagieren nicht das entscheidende Element in dynamischen Zeiten?
Hinter diesen Beobachtungen, die in gewisser Weise auch einem Feldversuch entspringen, verbergen sich bekannte Forschungsfragen nach Besucherorientierung, Vermittlungsformen, Dialog und Beteiligung, institutionellem Eigensinn und Pfadbindungen oder aber Entwicklungs- und Innovationsfähigkeit. Auch nach Hemmnissen im Zuwendungs- und Gemeinnützigkeitsrecht. Diesen Fragen sollten wir uns jetzt verstärkt zuwenden, ohne freilich Corona zum Maß der Wirkungsdinge zu erheben. Aber die Krise hat mehr als einen heuristischen Wert, sie zwingt uns, beherzter Zukunft zu antizipieren.
Gehen wir also einen Schritt weiter. Es gilt, auf ein ganzes Bündel an Transformationen zu reagieren: eine fortschreitende Globalisierung, einen sozial-ökologischen Wandel, den die EU als „Green Deal“ ausgerufen hat und mit dem wohl endgültig das Ende der auf Wachstum programmierten Industriegesellschaft eintreten wird, und schließlich die Digitalität als Modus der Weltwahrnehmung, nicht nur als technologische Innovation. Schließlich transformiert sich auch die Kreativität: Sie gerät zur allgegenwärtigen, treibenden Kraft und ist nicht mehr nur Sache der Künste oder eines erweiterten Kulturbegriffs.
Die Coronakrise wirkt insofern katalytisch, als sie uns zwingt, neue Relevanzen für unser Wirkungsfeld zu erkennen und uns auf Veränderungen einzustellen. Eine resiliente, also widerstandsfähige, lernfähige, veränderungsbereite Kulturlandschaft erlebt eine Krise als Chance des Umbaus, der Anpassung an neue Verhältnisse und Interessen. Sie lebt also nicht mehr von Wachstum und anderen Verteilungsgesten, sondern wohl künftig stärker von der Konzentration auf Wesentliches und Agilität. Sie setzt nicht einfach Routinen fort, sondern prüft deren Bedeutung und Akzeptanz heute. Sie ist kritisch und selbstkritisch. Förderpolitiken werden nicht extensiviert, sondern intensiviert, auf Wirkungen und Resonanz ausgerichtet. Kulturförderung bedeutet Verpflichtung zur Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung; so gibt es auch keine „Antragslyrik“ mehr, die als Platzhalter echter Konzepte dient und lediglich den Antragsteller formal legitimiert. Einer resilienten Kulturlandschaft liegt ein politisches Bekenntnis zugrunde, das ihre Gestalt sichert und nicht nur zulässt, was ohnehin geschieht. Kulturpolitik wird nur dann in dynamischen Zeiten Bedeutung erlangen, wenn sie selbst dynamisch ist, tatsächlich entscheidet, gewichtet und nicht in der Geste des Gutgemeinten erstarrt, weil man schlechterdings alles braucht, was sich regt und etabliert hat, wie es sich etabliert hat. Die derzeit vorherrschenden Ideale einer Kultur(förder)politik blockieren die Gestaltung des notwendigen Wandels.
Um nur einen guten Grund zu nennen, warum dies alles insbesondere nach Corona geboten sein wird: Sowohl die freien Mittel für Kulturförderung und für Investitionen in Kultur werden fehlen, um den vorherrschenden Trend fortzusetzen. Eine Reaktion darauf sollte klug und planvoll erfolgen, sonst verändert sich die Kulturlandschaft chaotisch, entsteht das Gegenteil von Resilienz. Im Grunde ist es die große Stunde der Kulturentwicklungsplanung im Sinne einer offenen, kollaborativen Verhandlung über das Notwendige – wenn wir etwas mehr Zeit hätten, uns auf die anstehenden Verteilungskämpfe vorzubereiten. Aber dennoch gilt es, konzeptionell zu reagieren und nicht in vulnerablem Habitus zu erstarren, alte Gewissheiten zurück zu postulieren. Gleichwohl wird es natürlich weiterer zusätzlicher staatlicher Übergangshilfen bedürfen. Aber diese wären ab einem gewissen Zeitpunkt über Konzepte und Zielvorstellungen zu legitimieren. Die zu erwartende neue Relevanz schafft die notwendige Legitimation für den Bedarf an Förderungen.
Die hier formulierte kulturpolitische Idealvorstellung ist und bleibt Utopie; doch was steht ihr entgegen? Zunächst einmal die Statik des Systems, die Gewissheiten, Organisationsformen und Routinen. Dann die häufig artikulierte Erwartung auf zusätzliche Einlösung all dessen, was sich aus der fortschreitenden Individualisierung ergibt: dass Pluralität und Diversität zu neuen Ausdrucksformen und Institutionen führen werden, die weiterer Mittel bedürfen und nichts verdrängen dürfen. Dieses Bild additiver Kulturpolitik sollte durch eine evolutive Auffassung abgelöst werden. Kultur ist gleichsam ein Ökosystem, das sich innerhalb seiner Grenzen fortentwickelt, ausbalanciert.
Schließlich – und das ist die schlimmste und reaktionärste Dimension – wird eine konservative populistische Politik von rechts den Umbau des Kulturstaats als dessen Niedergang brandmarken und den unbedingten Erhalt bestimmter Bestände einfordern: Statik des Überkommenen versus Dynamik lebendiger Kulturentwicklung. Sie wird – wie wir es bereits erleben – Begriffe wie Heimat, lokale Identität und deutsche Leitkultur als Normierungen setzen, die gegen Umbau, kulturelle Vielfalt und Diversität als kosmopolitische Störungen in Stellung gebracht werden. Damit korrespondiert ein weiterer Großtrend: die Erosion von Demokratie, Liberalität und Rationalität. Alles dynamische Begriffe der Aushandlung, der Toleranz und Erkenntnisgewinnung.
Die transformatorische Kulturpolitik, die hier im Sinne dieser Dynamik angesprochen wird, soll der lustvolle und wohl auch notwendige Versuch sein, Wandel zu gestalten, ihn produktiv zu machen und ihm eine Kulturlandschaft zu entringen, die trägt und wirkt. Sie zielt auf ein lokales oder regionales Gesamtsetting von Kultur, das verantwortungsvoller Kulturpolitik entspringt. Nutzen wir die Coronakrise als Brennglas der Trends und Handlungsimpuls.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 12/2020-01/2021.