Rasender Stillstand

Freie Szene: Hilfssysteme radikal vereinfachen

Ja, die Kulturmilliarde war wichtig und dass eine zweite Milliarde kommen wird, ist gut. Ja, in der Überbrückungshilfe III werden die Künste inzwischen gesehen, auch das Bewusstsein, dass bei den Solo-selbständigen etwas passieren muss, ist inzwischen stärker vorhanden als noch vor Monaten. Aber die Probleme sind dabei mitnichten vom Tisch. Viel zu lange hat es gedauert, bis die Interessenvertretungen durchgedrungen sind. Noch immer fallen zu viele durch das Raster und selbst für die, die Zugang zu staatlichen Hilfen haben, hören die Probleme nicht auf.

 

Seit fast einem Jahr befinden sich alle – Geförderte und Ungeförderte – in einem ermüdenden Mahlstrom: Den Förder-Dschungel durchforsten, die Widersprüche zwischen Pressemitteilungen und FAQ erforschen, eigene Umsätze berechnen, mit Außenständen jonglieren, Steuerberatung konsultieren, die Künstlersozialkasse kontaktieren, mit Interessenvertretungen sprechen, auf die Möglichkeit der Antragstellung warten, Anträge stellen, die FAQ screenshotten, weil sie sich vermutlich bald schon wieder geändert haben werden, auf die Bewilligung warten, auf Geld warten, mit Sorge vor Rückforderungen leben, Veranstaltungen umplanen, Hygienemaßnahmen vorbereiten, Veranstaltungen erneut umplanen, Geld zurücklegen, Geld lieber nicht zurücklegen, nochmals Beratung suchen, widersprüchliche Auskünfte erhalten, Verwendungsnachweise erstellen, Sachberichte schreiben, Nebenjobs organisieren, Nebenjobs machen, parallel die Kinder ganztags betreuen und alles wieder von vorne. Das Zermürbende hat am Ende wenig mit der Pandemie selbst zu tun, sondern vor allem mit einem viel zu komplizierten Apparat und mit Systemen, für die die Arbeitsrealität der Selbständigen, der hybrid Arbeitenden und der kleinen, freien Unternehmen nach wie vor etwas Fremdes ist. Die überbordende Bürokratie der Corona-Hilfen ist eine gigantische Vernichtungsmaschine für Zeit, Energie und Zuversicht.

 

Das gilt für die Kunstschaffenden. Aber das gilt in gleichem Maße auch für die Politik und die Verwaltung, die sich zunehmend in ihren selbst geschaffenen Konstrukten verheddern. Die Komplexität der Systeme – insbesondere bei den Wirtschaftshilfen – versetzen auch die Interessenvertretungen in ein merkwürdiges Dilemma. Je mehr die Szene-Vertretungen gehört werden, je öfter die Rechtsgrundlagen der Fördersysteme infolgedessen richtigerweise angepasst werden, desto unübersichtlicher wird es. Die Politik ist inzwischen durchaus zugänglich; es gibt beachtliche Lernkurven und viel ehrliches Bemühen. Aber all das mündet nie in Vereinfachung, sondern immer in einer noch weiteren Verkomplizierung. Die Systeme und unser Denken, wie Hilfen konstruiert werden, brauchen eine radikale Vereinfachung. Die Hilfen sind letztlich vom Misstrauen bestimmt, von der Sorge, dass es Mitnahmeeffekte bzw. einen unberechtigten Zugriff auf Steuergelder gibt und dass Ungleichheiten entstehen. Der Witz ist: Mitnahmeeffekte und Ungleichheiten gibt es trotz der Komplexität der Systeme.

 

Im Grunde braucht es in Ausnahme­situationen einen Vertrauensvorschuss und die Grundannahme, dass es denen, die die Hilfen in Anspruch nehmen, nicht um Bereicherung und persönliche Vorteilnahme geht, sondern darum – ohne Berufswechsel – durch die Krise zu kommen. Es braucht Hilfen, die grundsätzlich von der Praxis ausgehen und nicht von den Haushaltsordnungen. Mit Blick auf die Zukunft sollten wir bereits in der Krise mit ei­ner kritischen Durchsicht unserer Haushaltsordnungen und Förderverfahren beginnen. Ähnliches gilt für unsere sozialen Sicherungssysteme, die noch immer weitgehend aus der Logik des Normalarbeitsverhältnisses gedacht sind. Mehr als zuvor braucht es einen breiten ressort- und branchenübergreifenden Dialog, auch unter Einbeziehung der Interessenvertretungen. Bei dieser Gelegenheit reden wir dann auch noch einmal über die Behauptung, die Kunst gehöre zum Bereich Freizeitgestaltung.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 3/2021.

Stephan Behrmann
Stephan Behrmann ist Sprecher der Allianz der Freien Künste und Geschäftsführer des Bundesverbandes Freie Darstellende Künste (BFDK).
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