Nutzen-Risiko-Abwägung

Psychische Folgen der Maßnahmen gegen Corona

Schließlich dürfen auch subtilere, schwer quantifizierbare, gleichwohl für Lebenssinn und Lebensfreude sehr bedeutsame psychische Folgen nicht vergessen werden. Ein anhaltendes, diffuses Bedrohungsgefühl, Verlust an Vertrautheit im zwischenmenschlichen Umgang, Verschiebungen im Selbstverständnis als freier Mensch in einer freien Gesellschaft, Einschränkung des Zugangs zu Kultur und fröhlicher Geselligkeit sind Beispiele. Je nach Lebenssituation und Persönlichkeit gibt es jedoch nicht wenige Menschen, die der Coronakrise auch Positives abgewinnen können. Stichworte sind hier Entschleunigung, Konzentrieren auf das Wesentliche im Leben oder die Chance für neue Erfahrungen. Bei der Befragung der Stiftung Deutsche Depressionshilfe gaben immerhin 58 Prozent an, den Frühling während des ersten Lockdowns bewusster erlebt zu haben.

 

Wie lassen sich nun diese beispielhaft dargestellten psychischen Folgen der Corona-Maßnahmen in ein Verhältnis zu dem erhofften Nutzen setzen? Dies ist die zentrale Frage, die wie ein rosa Elefant im Raum steht. Oft wird dieser Frage mit der Feststellung ausgewichen, das lasse sich nicht gegeneinander aufrechnen oder sie wird gar nicht erst gestellt. An genau dieser Frage berühren sich aber die Kritiker und Befürworter harter Corona-Maßnahmen. Was ist unserer Gesellschaft die Lebensqualität von Millionen von Menschen und das Aufwachsen der Kinder in einem fördernden Umfeld wert und wie viel coronabedingtes Leid ist sie bereit, dafür in Kauf zu nehmen? Es ist verständlich, dass diese unschöne und zynisch wirkende Frage selten explizit gestellt oder gar beantwortet wird. Sie nicht zu stellen birgt aber das Risiko, dass vieles, was schwer in Zahlen zu fassen, für unser Menschsein aber sehr bedeutsam ist, gegenüber den harten Zahlen der täglichen Corona-Statistiken ins Hintertreffen gerät. Für viele Menschen zählt oft das Nichtzählbare. Beispielsweise wären viele alte Menschen durchaus bereit, das Risiko einer möglicherweise tödlichen Covid-19-Infektion einzugehen, wenn sie dafür weiter den für sie Lebenssinn stiftenden regelmäßigen Kontakt mit ihren Kindern und Enkelkindern pflegen könnten.

 

Bezüglich der krankheitsbezogenen Folgen der Maßnahmen gegen Corona wäre ein Abwägen leichter. Es wird in diesem Bereich sozusagen mit der gleichen Währung gehandelt, da Leid und Tod mit Leid und Tod verglichen wird. Die Sorge ist, dass selbst hier dieses Abwägen nicht mit der nötigen Sorgfalt und Systematik geschieht. Wie oben dargestellt, hat die Hälfte der 5,3 Millionen Menschen, die jedes Jahr an einer behandlungsbedürftigen Depression erkranken, über eine deutliche Verschlechterung ihrer medizinischen Versorgung berichtet. Hier wäre es unerlässlich, dass gezielt Daten erhoben und vorhandene zusammengetragen werden, um das dadurch verursachte Ausmaß an Leid und Tod schätzen zu können. Gleiches gilt natürlich für die vielen anderen Bereiche der Medizin, in denen über negative gesundheitliche Auswirkungen der Maßnahmen gegen Corona berichtet worden ist. Hierfür wäre eine regelmäßig tagende Expertengruppe aus Medizinern verschiedener Fachbereiche, Psychologen, Epidemiologen, Soziologen und Gesundheitspolitikern nötig, die systematisch unerwünschte Folgen der Corona-Maßnahmen erfassen und schätzen. Für Politiker mag es nicht opportun erscheinen, die Aufmerksamkeit auf die negativen Folgen ihres Handelns zu legen, aber nur bei deren Kenntnis kann die Nutzen-Risiko-Relation der getroffenen und zukünftig zu treffenden Entscheidungen optimiert werden. Zumindest im öffentlichen Raum ist eine systematische Diskussion dieser zentralen Frage nicht erkennbar.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 3/2021.

Ulrich Hegerl
Ulrich Hegerl ist Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und hat die Senckenberg-Professur an der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie an der Goethe Universität Frankfurt am Main, inne.
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