Ulrich Hegerl - 26. Februar 2021 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Corona vs. Kultur

Nutzen-Risiko-Abwägung


Psychische Folgen der Maßnahmen gegen Corona

Im Rahmen der Corona-Pandemie standen und stehen die Politiker vor der Aufgabe, auf unsicherer Datenbasis weitreichende, Leben und Tod der Bevölkerung betreffende Entscheidungen treffen zu müssen. Hauptziel dieser Maßnahmen war anfangs, das Infektionsgeschehen zu strecken – „flatten the curve“ –, um so zusätzliche Corona-Tote infolge einer Überforderung des Gesundheitssystems zu vermeiden. Dies ist weitgehend gelungen und die bisherigen Corona-Toten sind trotz guter medizinischer Versorgung zu beklagen. Nun tritt als zweites Ziel der Zeitgewinn in den Vordergrund, da durch Impfungen und verbesserte Behandlungsmöglichkeiten nun viel Leid und Tod vermieden werden kann.

 

Anders als bisweilen formuliert wird, gibt es jedoch kein „auf Nummer sicher gehen“. Ein Arzt, der bei einer Nierenentzündung „auf Nummer sicher geht“, die Antibiotika sehr hoch dosiert, dabei aber die Leber schädigt, würde unverantwortlich handeln. Ebenso darf bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie nicht durch eine Einengung der Sicht auf das Infektionsgeschehen die zentrale Frage nach der optimalen Balance zwischen Nutzen und Schaden der Maßnahmen ausgeblendet bleiben.

 

Im Folgenden soll zu dieser entscheidenden Frage als eine Facette die psychischen Folgen der Maßnahmen gegen Corona diskutiert werden:

Psychische Erkrankungen und auch die wegen ihrer Häufigkeit und Schwere bedeutsamste, die Depression, sind eigenständige Erkrankungen und weniger Folge äußerer Belastungen, als die meisten Menschen vermuten. Es ist deshalb aufgrund der Maßnahmen gegen Corona nicht mit einer massiven Zunahme depressiver Erkrankungen zu rechnen. Was jedoch Grund zu großer Sorge ist, das sind die Folgen für Menschen mit psychischen Erkrankungen und insbesondere Depressionen. Nach Ergebnissen einer eigenen repräsentativen Bevölkerungsbefragung im Juni/Juli 2020 mit 5.178 Erwachsenen gaben depressiv Erkrankte an, infolge der Maßnahmen gegen Corona sich vermehrt auch tagsüber ins Bett zurückzuziehen (48%), Schwierigkeiten zu haben, den Tag zu strukturieren (75%), vermehrt zu Grübeln (89%) und zudem sich weniger körperlich zu bewegen (80%). Alle diese Faktoren sind bekannt dafür, ganz spezifisch den Krankheitsverlauf bei Depressionen negativ zu beeinflussen. Noch gravierender ist jedoch, dass nach dieser Befragung ca. die Hälfte der depressiv Erkrankten angab, dass sich die Qualität ihrer medizinischen Versorgung deutlich verschlechtert habe. Stationäre Behandlungen wurden abgesagt, Ambulanzen haben den Betrieb heruntergefahren, Selbsthilfegruppen sind ausgefallen und verängstigte Patienten haben insbesondere im Rahmen des ersten Lockdowns Termine beim Arzt oder psychologischen Psychotherapeuten abgesagt. Da Depressionen schwere Erkrankungen sind, die mit einer mittleren Reduktion der Lebenserwartung von zehn Jahren einhergehen, wird hierdurch ohne Zweifel sehr viel Leid und Tod verursacht. Auf negative Auswirkungen der Maßnahmen gegen Corona auf Menschen mit Suchtgefährdung, Angststörungen und anderen psychischen Erkrankungen kann hier nicht eingegangen werden.

 

Viele Menschen berichten zudem über psychische Folgen der Corona-Pandemie und der Maßnahmen dagegen, die nicht als krankhaft, sondern als normale menschliche Reaktionen auf die belastende Lebenssituation anzusehen sind. Selbst im Juni/Juli 2020, nach Beendigung des ersten Lockdowns, fühlten sich noch 68 Prozent der befragten Allgemeinbevölkerung bedrückt. Vermehrte depressive Symptome wie Ängste, Sorgen und Stress wurden in zahlreichen weiteren Befragungen berichtet. Besonders betroffen sind oft auch Kunst- und Kulturschaffende, die verzweifelt vor den Scherben ihrer beruflichen Lebensplanungen stehen. Eine im Dezember 2020/Januar 2021 im Rahmen einer Längsschnittstudie durchgeführte repräsentative Befragung von Kindern und Jugendlichen – COPSY-Studie, befragt wurden mehr als 1.000 Kinder und Jugendliche zwischen 7 und 17 Jahre sowie mehr als 1.600 Eltern – ergab bei einem hohen Anteil der Befragten Hinweise auf eine reduzierte Lebensqualität (> 70%), auf psychische Auffälligkeiten (ca. 30%) und auf eine massive Verschlechterung des Gesundheitsverhaltens – Ernährung, Sport. Zehnmal so viele Menschen wie vor der Pandemie machen überhaupt keinen Sport mehr. Besonders massiv betroffen sind die Kinder und Jugendlichen aus schwierigen sozialen Verhältnissen und mit Migrationshintergrund.

Schließlich dürfen auch subtilere, schwer quantifizierbare, gleichwohl für Lebenssinn und Lebensfreude sehr bedeutsame psychische Folgen nicht vergessen werden. Ein anhaltendes, diffuses Bedrohungsgefühl, Verlust an Vertrautheit im zwischenmenschlichen Umgang, Verschiebungen im Selbstverständnis als freier Mensch in einer freien Gesellschaft, Einschränkung des Zugangs zu Kultur und fröhlicher Geselligkeit sind Beispiele. Je nach Lebenssituation und Persönlichkeit gibt es jedoch nicht wenige Menschen, die der Coronakrise auch Positives abgewinnen können. Stichworte sind hier Entschleunigung, Konzentrieren auf das Wesentliche im Leben oder die Chance für neue Erfahrungen. Bei der Befragung der Stiftung Deutsche Depressionshilfe gaben immerhin 58 Prozent an, den Frühling während des ersten Lockdowns bewusster erlebt zu haben.

 

Wie lassen sich nun diese beispielhaft dargestellten psychischen Folgen der Corona-Maßnahmen in ein Verhältnis zu dem erhofften Nutzen setzen? Dies ist die zentrale Frage, die wie ein rosa Elefant im Raum steht. Oft wird dieser Frage mit der Feststellung ausgewichen, das lasse sich nicht gegeneinander aufrechnen oder sie wird gar nicht erst gestellt. An genau dieser Frage berühren sich aber die Kritiker und Befürworter harter Corona-Maßnahmen. Was ist unserer Gesellschaft die Lebensqualität von Millionen von Menschen und das Aufwachsen der Kinder in einem fördernden Umfeld wert und wie viel coronabedingtes Leid ist sie bereit, dafür in Kauf zu nehmen? Es ist verständlich, dass diese unschöne und zynisch wirkende Frage selten explizit gestellt oder gar beantwortet wird. Sie nicht zu stellen birgt aber das Risiko, dass vieles, was schwer in Zahlen zu fassen, für unser Menschsein aber sehr bedeutsam ist, gegenüber den harten Zahlen der täglichen Corona-Statistiken ins Hintertreffen gerät. Für viele Menschen zählt oft das Nichtzählbare. Beispielsweise wären viele alte Menschen durchaus bereit, das Risiko einer möglicherweise tödlichen Covid-19-Infektion einzugehen, wenn sie dafür weiter den für sie Lebenssinn stiftenden regelmäßigen Kontakt mit ihren Kindern und Enkelkindern pflegen könnten.

 

Bezüglich der krankheitsbezogenen Folgen der Maßnahmen gegen Corona wäre ein Abwägen leichter. Es wird in diesem Bereich sozusagen mit der gleichen Währung gehandelt, da Leid und Tod mit Leid und Tod verglichen wird. Die Sorge ist, dass selbst hier dieses Abwägen nicht mit der nötigen Sorgfalt und Systematik geschieht. Wie oben dargestellt, hat die Hälfte der 5,3 Millionen Menschen, die jedes Jahr an einer behandlungsbedürftigen Depression erkranken, über eine deutliche Verschlechterung ihrer medizinischen Versorgung berichtet. Hier wäre es unerlässlich, dass gezielt Daten erhoben und vorhandene zusammengetragen werden, um das dadurch verursachte Ausmaß an Leid und Tod schätzen zu können. Gleiches gilt natürlich für die vielen anderen Bereiche der Medizin, in denen über negative gesundheitliche Auswirkungen der Maßnahmen gegen Corona berichtet worden ist. Hierfür wäre eine regelmäßig tagende Expertengruppe aus Medizinern verschiedener Fachbereiche, Psychologen, Epidemiologen, Soziologen und Gesundheitspolitikern nötig, die systematisch unerwünschte Folgen der Corona-Maßnahmen erfassen und schätzen. Für Politiker mag es nicht opportun erscheinen, die Aufmerksamkeit auf die negativen Folgen ihres Handelns zu legen, aber nur bei deren Kenntnis kann die Nutzen-Risiko-Relation der getroffenen und zukünftig zu treffenden Entscheidungen optimiert werden. Zumindest im öffentlichen Raum ist eine systematische Diskussion dieser zentralen Frage nicht erkennbar.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 3/2021.


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