Der Nachhall des Schocks

Kulturelle Perspektiven aus der Corona-Pandemie

Wenn wir die Fragen des schieren Überlebens – des Gesundheitsschutzes und der ökonomischen Absicherung – im Rahmen des Möglichen geklärt haben, dann werden genau diese grundsätzlichen Fragen nach dem Sinn unserer offenen Gesellschaft mit Macht auf uns einbrechen. Dann werden wir uns nicht mehr davor drücken können, die kapitalistische Landnahme der offenen Verständigungsräume zu diskutieren, dann werden wir uns der Frage stellen müssen, wie eine gute Gesellschaft lebbar wird.

 

Das sind natürlich politische Fragen, die an den normativen Kern heranreichen. Aber es sind eben auch Fragen, die eine kulturelle Fundierung brauchen, die Künstlerinnen und Kreative unmittelbar und direkt herausfordern. Denn es geht um die spekulative Alternative, um den pragmatisch gelebten neuen Entwurf, um die Suche nach jener tiefsitzenden und umfassenden Solidarität, die die Freiheit und die Vielfalt unseres Zusammenlebens überhaupt erst ermöglicht. Wenn es stimmt, dass wir in existenziellen Krisen wie der derzeitigen letztlich alle Aspekte neu bewerten, auf denen unser Gesellschaftsmodell begründet ist, dann bleibt zu hoffen, dass Künstlerinnen und Musiker, Schriftstellerinnen und Tänzer, Kreative und Schauspieler diesen Diskurs beleben und mit ihren Positionen und Interventionen aufmischen.

 

Kunst hat die Aufgabe, Chaos in die Ordnung zu bringen, hat Theodor W. Adorno in seinen „Minima Moralia“ geschrieben. Doch wenn die Welt im Chaos versinkt und wir als Gesellschaft mittlerweile sogar versucht sind, autoritäre Haltelinien zu definieren, kann Kunst eine alternative, eine weiterhin freiheitliche und offene Ordnung anbieten. Es geht um Deutungsangebote unserer selbst, die eben nicht den Kontrollfantasien mancher Politiker folgen, sondern die auf die aufgeklärte Vernunft der Bürgerinnen und Bürger setzen.

 

Wir müssen auch und gerade jetzt auf die Einsicht der Bevölkerung setzen und eben nicht auf eine staatlich gewaltsam durchgesetzte Ultima Ratio. Bürgerrechte entfalten ihren Sinn gerade in der Krise. Wir müssen aufpassen, dass kurzfristige Nützlichkeitserwägungen nicht dazu führen, dass wir wichtige bürgerliche Freiheit beseitigen. Wer Bürger per Handy orten will, weil sie als Infizierte gefährlich für die Allgemeinheit sind, der stoppt in der Durchsetzung dieser Idee vielleicht nicht bei der Bekämpfung einer Pandemie, sondern entwickelt weitergehende Fantasien, die gefährlich nahe an den Bildern jener Kontrollstaaten enden, die wir bislang nur aus dystopischen Science-Fiction-Filmen kennen.

 

Gerade jetzt geht es darum, die Freiheit unserer Gesellschaft zu bewahren. Nur wenn uns das gelingt, werden wir die aktuell notwendigen Einschränkungen vernünftig aushalten können. Wenn es uns aber gelingt, das Bewusstsein für den derzeitigen Verzicht zu sichern, dann besteht die Hoffnung, dass neue Sensibilität wächst – für den Wert und die Bedeutung all jener Orte und Angebote, die es uns ermöglichen, in Freiheit und Offenheit und Vielfalt miteinander zu leben.

 

Es liegt nahe, in diesen Tagen noch einmal Albert Camus’ Roman „Die Pest“ zu lesen. Dort finden sich am Ende beinahe rauschhafte Beschreibungen der Momente nach dem vorläufigen „Sieg“ über die Krankheit: „Alle schrien oder lachten. Der Vorrat an Leben, den sie während der Monate angelegt hatten, da ihr Lebensflämmchen nur noch ganz niedrig brannte, gaben sie an einem Tag aus, der wie der Tag ihres Überlebens war. Am nächsten Tag würde das eigentliche Leben mit seiner Vorsicht anfangen. Im Augenblick verbanden sich die Leute sehr verschiedener Herkunft und tranken Brüderschaft. Die Gleichheit, die die Gegenwart des Todes nicht wahrhaftig verwirklicht hatte, wurde jetzt wenigstens für ein paar Stunden von der Freude über die Erlösung geschaffen.“

 

Dieses Gefühl der Gleichheit in der Bedrohung kann zu einem neuen Bewusstsein für Gesellschaft und Kultur führen – und damit letztlich ja auch zu der Solidarität, um die es auch geht. Nicht nur für einen rauschhaften Moment, sondern als Nachhall eines viel tiefer gehenden Schocks, der uns die Verletzlichkeit unserer Existenz vor Augen führt – und uns fordert, sinnhafter mit ihren Möglichkeiten umzugehen.

 

Denn es stimmt! Hinter den derzeitigen Beschränkungen liegen all die Momente, die uns schon jetzt Gänsehaut bereiten können, wenn wir nur an sie denken: das Augen öffnende Theaterstück, die Perspektiven erweiternde Ausstellung, das in die Magengrube zielende Konzert, die verschwitzte Club-Nacht, die beseelte Diskussion in einem Stadtteilkulturzentrum … Es kann großartig werden, wenn sich dann alle daran erinnern, wie sehr sie derzeit diese Momente schon vermissen. Und wenn wir alle jetzt schon daran arbeiten, die Grundlagen unserer auf Freiheit und Vielfalt gegründeten Gesellschaft zu festigen. Wir werden viel zu diskutieren haben, wenn wir das Coronavirus abgewettert haben. Vieles wird anders. Ob es auch besser wird, hängt davon ab, ob wir uns schon jetzt das Bewusstsein der Freiheit bewahren, Solidarität leben und Vernunft und Augenmaß sichern.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 04/2020.

Carsten Brosda
Carsten Brosda ist Senator für Kultur und Medien Hamburg.
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