Der Nachhall des Schocks

Kulturelle Perspektiven aus der Corona-Pandemie

Der demokratische und liberale Geist unseres Gemeinwesens ist nirgendwo so unmittelbar zu spüren wie an unseren öffentlichen gesellschaftlichen und kulturellen Orten. Ohne diese Räume sind moderne, aufgeklärte Gesellschaften nicht denkbar; erst sie ermöglichen die Gemeinschaft, in der wir zu uns selbst finden. Doch es sind genau diese Orte, die derzeit verschlossen bleiben müssen, um die Welle der Neuansteckungen mit dem Coronavirus zu brechen. Was wir jetzt machen müssen, fühlt sich so falsch an und ist dennoch in diesem Moment richtig.

 

Die Lage ist ohne Frage beispiellos dramatisch. Die langfristigen Folgen für unsere Gesellschaft, unsere Wirtschaft und unsere Kultur vermag derzeit niemand abzusehen: Die Theater und Museen sind geschlossen, ebenso die Konzerthäuser, Clubs und soziokulturellen Zentren sowie alle weiteren Orte, an denen sich Bürgerinnen und Bürger bislang begegnen, gemeinsam Kultur erleben und gestalten können. Es ist paradox: Wir müssen Solidarität und Empathie füreinander empfinden können, um das zu leisten, was derzeit notwendig ist – Abstand zueinander zu halten und Distanz zu wahren. Das fällt nicht leicht, das ist oftmals sogar kontraintuitiv – und doch ist es so notwendig, um die weitere Ausbreitung des Virus so weit zu verlangsamen, dass wir die Kapazitäten unseres Gesundheitssystems nicht überlasten.

 

Ebenso notwendig ist es, dass wir die immensen ökonomischen Folgen dieser Entscheidungen abfedern. In den Schutzschirmen von Ländern und Bund sind Kultur und Kreativwirtschaft ebenso ein integraler Bestandteil wie in den arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen von Kurzarbeit und Grundsicherung. Selten ist in einer ökonomischen Krise so intensiv auch über Soloselbständige und Kleinstbetriebe gesprochen worden wie derzeit. Das ist richtig: Die nötigen Eingriffe sind immanent ein beinahe direkter Angriff auf die verletzlichen und prekären Strukturen der Kulturwirtschaft. Sie werden von den aktuellen Beschränkungen ganz besonders hart getroffen. Es ist ein gutes Signal, dass das Bewusstsein für diese Bedrohtheit mittlerweile so sehr gewachsen ist, dass die Interessen der Kultur von Anfang an mitberücksichtigt wurden. Aber wir alle wissen auch: Die jetzt anlaufenden Hilfs- und Notmaßnahmen können nur das Schlimmste mildern, einen vollständigen Ausgleich bieten sie nicht.

 

Deshalb sind wir alle gefordert, schon jetzt die Zeit nach der Pandemie, nach den Ausgangsbeschränkungen und den Notmaßnahmen in den Blick zu nehmen. Denn es ist mehr als absehbar, dass wir nicht einfach zum Status quo ante zurückkehren werden. Es ist vielmehr recht wahrscheinlich, dass wir unsere Welt nach den Erfahrungen dieser Wochen anders betrachten werden. Wir werden Prioritäten und Routinen neu bewerten und sicherlich auch zu anderen Entscheidungen gelangen. Der Historiker Yuval Noah Harari hat in der Financial Times darauf hingewiesen, dass solche globalen Krisen oft Veränderungen mit sich bringen, für die es unter normalen Umständen Jahrzehnte brauchen würde, die nun aber aufgrund der monströsen Außergewöhnlichkeit der Lage einfach geschehen, weil das Gewohnte nicht mehr lebbar und der Drang zur plausiblen Alternative unmittelbar ist.

 

Wir erleben das bereits jetzt in den kleinen und kleinteiligen Strukturen des öffentlichen kulturellen Lebens. Auf einmal sprießen die digitalen Angebote aus allen Ecken des Netzes. DJs legen virtuell auf, Museen zeigen ihre Ausstellungen online, Theater und Opernhäuser streamen Aufführungen, Igor Levit spielt auf Twitter, Saša Stanišić liest an gleicher Stelle, Theaterschulen stellen kleine Clips ihrer Schülerinnen ins Netz – die Liste ließe sich endlos fortsetzen.

 

Und der Hashtag stimmt: #CultureDoesntStop. Wie schön! Die Kraft dieser Kreativität lässt erahnen, was noch alles möglich sein wird – auch aus freien Stücken und nicht bloß als verzweifelt trotzige Alternative zum derzeit nicht Möglichen. Daraus aber wächst auch die Verantwortung, die Folgen heutigen Handelns für die Zeit danach in den Blick zu nehmen. Es geht bereits jetzt um die Liberalität und die Solidarität unserer künftigen Gesellschaft.

 

Denn natürlich spüren wir derzeit einen enormen Verlust an Freiheit und Gemeinschaft. Uns wird bewusst, welche Bedeutung all jene Orte und Erlebnisse besitzen, die wir in den vergangenen Jahren vielleicht für ein wenig zu selbstverständlich gehalten haben. Erst wenn etwas weg ist, wächst das Bewusstsein für seinen Wert. Hie-rin mag eine paradoxe Chance der aktuell schrecklichen Situation liegen: Uns kann bewusst werden, was uns ausmacht – und zwar in dem Moment, in dem wir uns selber die Möglichkeit nehmen müssen, es zu leben: „Europa ist in den Städten entstanden. Sich zu Fuß über einen Platz zu bewegen, dort zu flanieren, zu diskutieren, zu handeln, das ist die wesentliche europäische Erfahrung, der freie politische Diskurs im Café ist eine historische Errungenschaft“, hat Nils Minkmar im Spiegel geschrieben: „Der leere Markusplatz von Venedig, die leere Passage Vittorio Emanuele II in Mailand, die leeren Stadien sind Symbole: Wir sehen plötzlich besser, was es für Orte sind, frei und voller Versprechen, in denen man mehr machen kann, als Geld auszugeben und einzunehmen. Nachdenken und diskutieren, wie es jetzt weitergeht nach dem Wahnsinn, den wir für Normalität hielten.“

Carsten Brosda
Carsten Brosda ist Senator für Kultur und Medien Hamburg.
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