Bildung und Kultur zuletzt

Hat Corona die gesellschaftlichen Wertigkeiten verändert?

Zuerst durften Autohäuser und andere Geschäfte wieder öffnen. Dann – mit Einschränkungen – Kneipen, Restaurants, Hotels. Die Reisebeschränkungen wurden pünktlich zum Beginn der Urlaubszeit aufgehoben; als unweigerlich vom Ballermann und anderswo das Virus mit zurückkam, gab es kostenlose Pflichttests zur Beruhigung. Schlachthöfe, die Menschen und Tiere ausbeuten, und andere Betriebe durften ohnehin die ganze Zeit weiterarbeiten, ob sie lebensnotwendig sind und die Hygieneauflagen einhielten oder nicht. Da wusste man schon, dass die Coronakrise an der Rangordnung in Politik und Gesellschaft wenig geändert hat, allen Beteuerungen und Hoffnungen zum Trotz. Hauptsache, es wird wieder in die Hände gespuckt, wir steigern das Bruttosozialprodukt. Die Schulen dagegen gehen erst jetzt nach dem Ende der Sommerferien wieder in den Regelbetrieb. Die Hochschulen sind weiter geschlossen. Genauso die meisten Kultureinrichtungen.

 

Damit ich nicht falsch verstanden werde: Natürlich ist es wichtig, dass weder das Gesundheitssystem noch die Wirtschaft durch die Pandemie zusammenbrechen. Schließlich hängen daran Menschenleben, Millionen Arbeitsplätze, die Versorgung, unser Wohlstand. Aber die Gesellschaft und ihre Zukunft hängt noch weit mehr davon ab, dass Kinder und Jugendliche etwas lernen für ihr weiteres Leben und ihren späteren Beruf und nicht monatelang mehr oder wenig untätig herumhocken und auf dumme Gedanken kommen. Z. B. in der ungewollten Freizeit massenhafte Partys und andere Zusammenballungen abzuhalten.

 

Bildung ist ein Grundrecht, ja: eine soziale Grundpflicht, genauso wie die Gewerbefreiheit, das Demonstrationsrecht und das Recht, seinen Glauben auszuüben, auch live im Gotteshaus. Bildung ist aber noch weit mehr: Grundlage eines gelingenden Lebens jedes Einzelnen und für Chancengerechtigkeit, um die es ohnehin hierzulande schlecht steht. In politische Reden wird das gerne beschworen. Aber wenn es darauf ankommt wie jetzt in der Debatte, wie und unter welchen Bedingungen die Schulen endlich wieder ihrer Aufgabe nachgehen können, kamen Tausenderlei Bedenken. Und man vernahm beinahe Schadenfreude, als in Mecklenburg-Vorpommern, dem ersten Bundesland, das nach den Sommerferien wieder regulären Unterricht mit Auflagen erlaubte, sogleich einige Schulen erneut geschlossen werden mussten wegen einzelner Infektionsfälle. „Haben wir doch gewusst. Geht nicht. Unverantwortlich!“, so manche Reaktionen. Aber wieder Zuschauer bei Fußball-Bundesligaspielen zulassen, das geht?

 

Wo Kinder, Jugendliche und Erwachsene schon bei den Geisterspielen die miese doppelte Corona-Moral als abschreckendes Beispiel erleben konnten: Auf der Bank müssen die kickenden Millionäre Mund und Nase bedecken und Distanz halten. Aber auf dem Spielfeld, wo enger Körperkontakt unvermeidlich ist, spielt Gesundheitsschutz keine Rolle. Den meisten Breitensportlern hingegen ist er weiter verordnet. Auch hier geht es also nicht um soziale Notwendigkeiten, sondern Geschäfte, Gewinne und anderes: Brot und Spiele – seit alters her Mittel Herrschender, das Volk ruhig zu
stellen.

 

Was aber spricht dagegen, Schülern einen weniger engen Kontakt im Klassenraum und auf dem Schulhof zu erlauben? Oder Studenten, nicht länger nur online zu lernen, sondern leibhaftig in Hörsälen und Seminaren? Wobei die Gefahr, an Corona zu erkranken, gar zu sterben, bei Jungen ohnehin gering ist, ebenso das Risiko, dass sie das Virus verbreiten, sofern sie sich an die Grundregeln halten. Anders als bei all den Ballmännern und -frauen. Dass darüber überhaupt diskutiert wurde, zeigt, dass der Nachwuchs in unserer Gesellschaft in Wahrheit eine untergeordnete Rolle spielt. Dass Schulen und Hochschulen hierzulande für digitales Lernen schlecht ausgestattet sind: geschenkt. Aber Lernen funktioniert ohnehin nur sehr eingeschränkt vereinzelt vor dem Bildschirm. Zum Lernen gehört sozialer Austausch, direkte Kommunikation. Und nicht jede Familie, vor allem sozial schwache, haben einen oder genügend Computer. Auch das wahrlich keine überraschende Erkenntnis. Auto- und andere Käufe oder Reisen können nachgeholt werden. Oder man kann darauf verzichten. Bildung hingegen, gerade in den Anfangsjahren, kann nicht oder kaum nachgeholt werden. Was einmal verpasst wurde, fehlt fürs Leben. Das Gleiche gilt für die Kultur. Auch sie ist kein Sahnehäubchen, etwas, auf das man und die Gesellschaft monatelang ohne Folgen verzichten können. Nicht nur, weil Kulturschaffende, vor allem die Hunderttausenden freiberuflichen, die meist ohnehin prekär leben, und die Kulturstätten auf Einnahmen angewiesen sind. Sondern weil Kultur und Bildung soziale Fermente sind. Ohne beides ist die Gemeinschaft nichts. Sie machen uns aus als Land der Dichter und Denker. Und nicht des puren Kommerzes und Vergnügens.

 

Ich gestehe: Auch ich hatte mir zu Beginn der Pandemie, wie ich in einer Kolumne schrieb, Hoffnungen gemacht, dass diese existenzielle alle verbindende Erfahrung bleibende Spuren hinterlässt in den Köpfen. Mittlerweile bin ich ernüchtert. Die Hoffnung gebe ich dennoch nicht auf. Aber wir müssen dafür kämpfen, dass sie Wirklichkeit wird.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2020.

Ludwig Greven
Ludwig Greven ist freier Journalist und Autor.
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