Bei Anruf Kultur

Per Telefon durchs Museum

Der letzte Museumsbesuch liegt zumeist ein Jahr zurück – nämlich vor Pandemiebeginn. Trotz weiterhin geschlossener Türen kann man bereits seit Februar zahlreiche Hamburger Museen und Kulturinstitutionen besuchen – per Telefon. Das gemeinsame Projekt „Bei Anruf Kultur“ vom Blinden- und Sehbehindertenverein Hamburg (BSVH), grauwert, dem Büro für Inklusion und demografiefeste Lösungen, verschiedenen Hamburger Museen und Kunstvermittlern macht Kultur auch während des Corona-Lockdowns zugänglich – niedrigschwellig, kostenfrei und überall. Der Name sagt es schon: Ein Anruf genügt und schon ist man in einem der zahlreichen Hamburger Museen unterwegs. Nach einem telefonischen Besuch der Hamburger Sammlung Falckenberg spricht Theresa Brüheim mit Mathias Knigge, der mit seiner Agentur grauwert das Projekt umsetzt.

 

Theresa Brüheim: Herr Knigge, worum geht es bei „Bei Anruf Kultur“? Und wie kam es dazu?

Mathias Knigge: Durch die coronabedingten Schließungen der Museen und Ausstellungen wurde auf einmal vielen Kulturinteressierten der Zugang zum Gebäude, zu den Gemälden, zur Kultur versperrt. Für uns war klar: Da muss es doch eine Alternative geben! Zu diesem Zeitpunkt kam der Blinden- und Sehbehindertenverein Hamburg auf mich zu: Blinde und Sehbehinderte erfahren Kultur und Kunst meist durch umfangreiche Beschreibungen. Das ist insbesondere zum aktuellen Zeitpunkt auch für andere Zielgruppen interessant. Dann sind wir ans Ausprobieren gegangen.
Das Telefon bot sich als Medium an und hat sich als ein perfektes Vehikel herausgestellt. Man muss am Telefon beschreiben. Das Gegenüber ist nicht physisch vor Ort, insofern beschreibt man fast automatisch. Das war der Ausgangspunkt von „Bei Anruf Kultur“.

 

Wie genau läuft eine solche Museumsführung via Telefon ab, bei der die Teilnehmenden die Ausstellungsstücke nicht sehen können?

Wir haben ein vielfältiges Programm mit mehreren Veranstaltungen pro Woche, das online über die Webseite und den Veranstaltungskalender der Metropolregion Hamburg kommuniziert wird. Die Teilnehmenden melden sich an und bekommen dann Zugangsdaten in Form einer Telefonnummer. Zur angegebenen Zeit rufen sie diese an und die Führung, die live mit einem geschulten Guide aus dem jeweiligen Museum stattfindet, beginnt. Zu Beginn gibt es eine kurze Anmoderation, eine Begrüßung und kurze Vorstellung aller Teilnehmenden mit ein paar Hinweisen zum Procedere. Danach werden die Mikrofone der Teilnehmenden stummgeschaltet, sodass Störgeräusche nicht hörbar sind. Man kann es sich also gemütlich machen, eine Tasse Tee trinken und Ähnliches. Dann geht die Führung los.

Unsere Guides sind sensibilisiert, worauf sie allgemein bei einer Telefonführung achten. Aber wir sind der Meinung, dass es nicht den einen Weg für eine perfekte deskriptive Führung gibt, sondern verschiedene Ansätze, die wir bei „Bei Anruf Kultur“ erleben und die alle ihren Stellenwert haben. Während der Führung wird genauer auf Ausstellungsstücke eingegangen und Exponate beschrieben, die man sonst mit den Augen wahrnehmen würde.

Das fängt beim Entree an. Einleitend wird erzählt, wo sich das Gebäude in Hamburg befindet, wie man eintritt, was man dabei wahrnimmt – die Materialien, das Licht usw. Aber das wird nicht als etwas Gesondertes dargestellt, sondern fließt natürlich mit in die Führung ein. Das ist das Schöne: Wie gesagt, wenn ich ein Telefon benutze, ist mir automatisch klar, dass mein Gegenüber es nicht sieht und ich beschreibe mehr. So führen wir ins Haus ein. Im Laufe der Führung werden eher wenige ausgewählte als sehr viele Objekte beschrieben. Gleichzeitig erleben wir, dass es häufig ein Wissensbedürfnis jenseits des Visuellen gibt, das über diese Art und Weise gestillt wird. Nach der anfänglichen Beschreibung, was sehe ich, um welches Format handelt es sich, wie baut sich das Bild auf, ergeben sich Fragestellungen zum Kontext und Künstler, die das Visuelle wieder verlassen.

Nach ca. 20 Minuten werden Rückfragen zugelassen oder bei einigen Führungen sind wir komplett im Gespräch. Es ist immer möglich, dass die Teilnehmenden Gegenfragen stellen, sich etwas erläutern, sodass wir eine sympathische, positive Atmosphäre haben, wo es nicht um richtig oder falsch geht. So kommt man immer tiefer ins Gespräch. Das ist ein sehr niederschwelliger Einstieg für die Häuser.
Wir haben bisher unheimlich viel Zuspruch erfahren. Das Programm war sofort gefüllt. Die Häuser müssen uns nur ein Thema, einen Termin und den Namen des Guides mitteilen, um in das Programm aufgenommen zu werden. Wir übernehmen die komplette Kommunikation, die Vermittlung, sorgen fürs Publikum und sind für das laufende Jahr mit Projektmitteln gefördert. Aktuell sind dabei: Sammlung Falckenberg, Museum für Kunst & Gewerbe, Internationales Maritimes Museum, Pinneberg Museum, Deutsches Zusatzstoffmuseum, Gedenkstätte Plattenhaus Poppenbüttel, Deichtorhallen Hamburg und viele andere Hamburger Kulturinstitutionen.

Man kann auch eine Führung durch die Peking, das historische Schiff, das gerade in Hamburg wieder aufgebaut und zugänglich gemacht wurde, besuchen. Da haben sich in der Vergangenheit schon Teilnehmende aus Madrid eingewählt. Und das für uns Charmante ist: Es ist unerheblich, ob diese Menschen eine Einschränkung haben – können sie nicht sehen oder gehen, sind sie einfach nur weit weg und sehnen sich nach Hamburg? Manchmal wird es thematisiert, manchmal ist es gar kein Thema. Das hat eine sehr angenehme Art des inklusiven Miteinanders. Wir machen Kultur für alle zugänglich. Für jeden auf seine Art. Und es kommen Menschen zusammen, die sich sonst nicht getroffen hätten.

 

Das kann ich nur bestätigen. Gestern war ich via Telefon in der Sammlung Falckenberg unterwegs. Seit Langem wollte ich wieder mal dorthin und habe es so auf neue Art und Weise geschafft. Die Teilnehmenden kamen aus ganz Deutschland – und es ist ein interessanter Austausch entstanden.

Genau dieses Gefühl ist uns so wichtig. „Bei Anruf Kultur“ gibt es andere Mehrwerte. Der Ausgangspunkt der Konzepte für Blinde und Sehbehinderte sollte nicht im Zentrum stehen, sondern wir erleben und erobern uns gemeinsam Räume, in die wir sonst nicht kommen –aus welchem Grund ist erst mal sekundär. Das macht die Atmosphäre aus.

Dann wären wir bei der Frage, an wen richtet sich das Angebot?

Die Einladung geht wirklich an jeden und jede heraus, Kultur zu genießen, dabei zu sein. Teil unserer Mission ist es aber insbesondere, Menschen anzusprechen, denen die Hürden jetzt noch bewusster werden. Ihnen soll ein möglichst einfaches und gutes Angebot gemacht werden. Und die gemischten Gruppen machen es aus. Wir sind froh über jeden Teilnehmer, jede Teilnehmerin. Mit wachsender Nachfrage wächst unser Angebot – derzeit genauso rasant. Eine Herausforderung, für die wir noch keine Lösung gefunden haben, ist die Gebärdensprache, die ja visuell vermittelt wird.

 

Deutlich wird, bei „Bei Anruf Kultur“ profitieren alle Kulturinteressierten durch die langjährigen Erfahrungen und etablierten Konzepte aus der Kulturvermittlung für sehbehinderte Menschen.

Wir versuchen durch Workshops, weiter voneinander zu lernen und aufeinander aufzubauen. Dabei bieten wir den teilnehmenden Vermittlerinnen und Vermittlern Gelegenheiten zum Austausch und Feedback, das wir nach Führungen geben, da wir ein qualitativ hochwertiges Angebot bieten wollen. Zu Projektbeginn hatte ich erwartet, dass mehr Edukatives und Klärendes von unserer Seite nötig oder gefragt wäre. Aber es reicht, dass wir Mut machen und ein grundsätzliches Gefühl dafür geben, was die Gruppe erwartet. Wir sind uns sicher, dass die Guides durch diese Erfahrung in Zukunft eine andere Art der Führung anbieten können, wenn es wieder zurück in die Häuser geht. Und dass die Themen dadurch weiter geöffnet werden, das erleben wir auch am Feedback der Museen und Guides.

In Zukunft wird es hoffentlich weniger Ängste geben, explizit Führungen anzubieten, die sich an Blinde und Sehbehinderte richten. Oder wenn man spontan merkt, jemand in der Runde sieht nicht gut, bietet man mehr Beschreibungen an.

Und als langfristigen Benefit wird es durch diese aktuelle Nähe zum Publikum Veränderungen in den Häusern geben. Es sind manchmal kleine Sachen, die unterstützen und ergänzen, damit Museen sich bewegen. So kommen wir aus dem Henne-Ei-Problem raus: Museen entwickeln sich aufgrund mangelnder Nachfrage und fehlender Nähe zum Publikum nicht weiter in Richtung mehr Zugänglichkeit. Und gleichzeitig ist natürlich das entsprechende Publikum nur schwer zu begeistern, solange es keine Angebote gibt.

 

„Bei Anruf Kultur“ sind aktuell ausschließlich Hamburger Museen dabei. Wie ist das Feedback aus anderen Städten?

Es gab bereits ähnliche Aktivitäten: punktuell und deutschlandweit. In Berlin war das besonders ausgeprägt – auch organisiert vom Blinden- und Sehbehindertenverein. Aber wir haben es aufgrund der günstigen Umstände, insbesondere auch aufgrund der Niedrigschwelligkeit des Angebots, geschafft, den Anfangsschwung aufzunehmen und es dauerhaft zu etablieren. Das ist an der Stelle einmaliges Glück für Hamburg. Und jetzt gucken wir mal, wie es weiterwachsen kann. Wir haben inzwischen auch schon weitere Städte im Angebot: Gemeinsam unternehmen wir so am Telefon einen Ausflug in andere Städte. Das lässt sich wunderbar weiterspinnen und mit Häusern außerhalb von Hamburg weiterdenken.

 

Vielen Dank.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 5/2021.

Mathias Knigge & Theresa Brüheim
Mathias Knigge ist Gründer und Inhaber von grauwert und Vorsitzender des Kompetenznetzwerkes Design für Alle – Deutschland e.V. (EDAD). Theresa Brüheim ist Chefin vom Dienst von Politik & Kultur.
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