Ein Dinosaurier in der modernen Medienwelt

In Podcasts steckt eine Evolution des Radios

Um ein Missverständnis gleich aufzuklären: Podcasts sind kein Genre. Zwar liegt beim Blick auf die deutsche Podcast-Landschaft – zumindest auf den sichtbarsten, reichweitenstärksten Teil – dieser Schluss sogar nahe. Dass Podcasts nur lange Gespräch wären. Das ist oft nicht falsch, aber auch nie ganz richtig. Denn Podcasts sind, können mehr.

 

Keine Sorge, ich möchte nicht behaupten, Podcasts hätten das Hören neu erfunden. Natürlich sind sie mit dem 100-jährigen Radio verwandt, vielleicht deren Kinder oder Enkel. Sie unterliegen gemeinsamen Grundregeln und Traditionen, was Produktion und Rezeption von Audio betrifft. Insofern stimmt die beliebte Definition, „Podcasts sind wie Radio, nur jederzeit abrufbar“. Ja, aber – möchte ich andererseits hinzufügen: In Podcasts stecken auch eine Evolution und eine Revolution des Radios.

 

Die Geburt des „Podcasting“

Wer Podcasts heute verstehen möchte, kommt um einen kurzen Ausflug in die Geschichte nicht herum: Podcasts sind in den frühen 2000er Jahren entstanden. In dieser idealistischen Ära des Internets, als kommerzielle Interessen und Unternehmen noch nicht alles dominierten.

 

Wenn das Radio die (Groß-)Mutter aller Podcasts ist, dann sind Weblogs der andere (Groß-)Elternteil. Podcasts basieren auf der Grundidee der Blogs und der RSS-Feeds: Nicht das Publikum kommt, um sich selbst neue Inhalte zentral beim Produzenten abzuholen. Sondern neue Inhalte werden dezentral an das Publikum ausgeliefert, sobald sie erscheinen – unabhängig vom benutzten Endgerät und Programm, plattformneutral.

 

Das zweite, vererbte Ideal der Blogs: Podcasts veröffentlichen kann, wer möchte. Es gibt keine Kontrolle, Sender oder Verleger. Keine Filter, Plattformen oder Algorithmen. Kurz: Keine Gatekeeper, die zwischen Produzierenden und Publikum stehen. Das ist die eigentliche Revolution – auch des Radios – durch Podcasts: Alle können senden und empfangen. Ein demokratisches Medium für die Ohren. Technisch zwar ein Dinosaurier, aber erhaltenswert allemal. Kommerzielle Plattformen wie Spotify, Facebook, Amazon sehen das anders und wollen sich die gewachsene Podcast-Landschaft am liebsten im Ganzen einverleiben. 2004 entstand der Begriff, den wir heute nutzen: Aus dem damals beliebten Abspielgerät iPod von Apple und der Rundfunk-Idee („Broadcast“). Zufällig setzte sich dieses Kofferwort „Podcast“ durch, das der Journalist Ben Hammersley – auch eher zufällig – damals als Erster in ein Traditionsmedium namens Guardian schreibt. Sonst würden Podcasts heute Audioblogs heißen. Ihre Genese wäre weniger mit dem Apple-Gerät und dem dazugehörigen Konzern verbunden, dafür sichtbarer mit den Idealen des frühen Internets.

 

Eine missverstandene (R)Evolution

Zu lange ging es beim Verständnis von Podcasts aber allein um die Evolution des Radios: Podcasts wurden ausschließlich als reiner Verbreitungsweg von Radio (miss-)verstanden. Radiosender stellten ihre Radiosendungen als Podcast bereit, jederzeit abruf- und downloadbar, jenseits von Sendeplänen und Sendezeiten – bis heute. Währenddessen sendeten damals die ersten Podcast-Pioniere in Deutschland, wie Annik Rubens oder Tim Pritlove.

 

Zurück ins Jahr 2021. Bei der Angebotsfülle fällt manchem Podcast-Beobachter nichts ein, außer der grundverkehrte Satz: „Wer soll das alles hören?!“. Das ist der Witz: Niemand soll alle Podcasts hören. Aber es kann für alle Bedürfnisse, Wünsche, Themen, Nischen, Stimmen einen Podcast geben. Das demokratische Medium Podcast ermöglicht ein Ökosystem mit Vielfalt. Ein gigantisches nichtlineares Angebot auf Abruf. Das kann es in dieser Breite, Tiefe und Vielfalt in den Begrenzungen des Rundfunks nie geben.

 

Kein Boom, kein Hype: ein neues Medium

Das Medium Podcast ist über ein Jahrzehnt kontinuierlich gewachsen. Jeder vierte bis dritte Mensch in Deutschland hat schon Podcasts gehört, je nach Erhebung. Schneller und sichtbarer wächst das Medium seit zwei Beschleunigungsphasen: Weltweit begründete der US-amerikanische Podcast „Serial“ 2014 den Hype der True-Crime-Podcasts. Hierzulande verschaffte „Das Coronavirus-Update“ dem Begriff und Konzept „Podcast“ eine neue Sichtbarkeit in der Breite. Beide Reichweitenerfolge kommen zwar aus Radiostrukturen, funktionieren aber eben nicht wie Radiosendungen.

 

Zurück zum Anfang: Warum sehen wir nun so viele Gesprächspodcasts in Deutschland? Erstens: Klassische Medien und Formate geben nicht mehr den Takt für das Publikum vor, die linearen Lagerfeuer-Momente werden seltener. Stattdessen entscheiden Nutzende individuell, welchen Themen, Medien, Marken, Menschen sie ihre Aufmerksamkeit schenken. Je jünger das Publikum, umso deutlicher wird dieser Trend. Was YouTube für das Fernsehen ist, sind Podcasts für das Radio. Zweiter Erklärungsansatz: Es gibt offensichtlich ein großes Bedürfnis nach Gesprächigkeit, Persönlichem, nach Ausführlichkeit und Tiefe. Daraus könnte das Radio lernen, muss sogar. Denn die kommerziellen Plattformen lernen schnell, was Podcasts ausmacht und auch, wie sie dem Radio den Rang ablaufen.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2021.

Sandro Schroeder
Sandro Schroeder ist freier Journalist. Er berichtet seit 2016 über Podcasts, schreibt den Podcast-Newsletter „Hören/Sagen“ und berät Redaktionen bei der Entwicklung von Podcasts.
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