Krieg gegen die Ukraine: Schnell helfen und Perspektiven entwickeln

Stellungnahme des Deutschen Kulturrates

Berlin, den 21.06.2022. Der Deutsche Kulturrat, der Spitzenverband der Bundeskulturverbände, verurteilt den russischen Angriff auf die Ukraine. Die Ukraine ist ein unabhängiger europäischer Staat, der bereits seit mehreren Jahren von seinem Nachbarn Russland bedroht wird und seit 2014 im Krieg lebt. Dieser Krieg muss unverzüglich beendet werden. Es ist ein verbrecherischer Krieg gegen die Menschen in der Ukraine, gegen die Kultur und kulturelle Identität der Ukraine, die ausgelöscht werden sollen.

 

Der Deutsche Kulturrat positioniert sich mit dieser Stellungnahme zu aktuellen Hilfsmaßnahmen für den Kultursektor in der Ukraine und zu Hilfen für ukrainische Geflüchtete in Deutschland sowie zu den Perspektiven der Zusammenarbeit mit dem ukrainischen Kultursektor. Dabei gilt es, an die von verschiedenen Organisationen, Künstlerinnen und Künstlern sowie Mitarbeitenden in Kultureinrichtungen seit Jahren bestehenden und gepflegten Kontakte und Arbeitsbeziehungen mit dem ukrainischen Kulturbetrieb anzuknüpfen und diese auszubauen. Im Kulturbereich besteht eine große Hilfsbereitschaft, um in Deutschland ankommende Geflüchtete aus der Ukraine zu unterstützen und um Kulturinstitutionen in der Ukraine zu helfen. Ein erheblicher Teil dieser Hilfen erfolgt ehrenamtlich. Im Folgenden wird auf einzelne Aspekte der Hilfe eingegangen, Chancen, aber auch Probleme werden benannt und konkrete Forderungen zur Verbesserung der Situation erhoben.

 

Arbeiten in Deutschland

 

Ukrainische Geflüchtete können einen Aufenthaltstitel nach § 24 Aufenthaltsgesetz bei der zuständigen Migrationsbehörde des Wohnorts beantragen. Mit diesem Aufenthaltstitel haben sie ab dem Zeitpunkt der Ausstellung einer Fiktionsbescheinigung den Zugang zum Arbeitsmarkt, d.h. sie können sowohl als abhängig Beschäftigte als auch als Selbständige in Deutschland arbeiten. Der Deutsche Kulturrat begrüßt dies, da der Einstieg in den Arbeitsmarkt wichtig für das Ankommen in der Gesellschaft ist.

 

Verschiedene Verbände aus dem Kulturbereich informieren seit Beginn des Kriegs und der Ankunft der ersten Geflüchteten aus der Ukraine über Arbeitsmöglichkeiten in den verschiedenen Branchen, Kulturinstitutionen oder Kulturunternehmen. Sie halten auch Informationen zum Aufenthaltsrecht sowie zum Sozialrecht bereit und gehen dabei auf die Spezifika der Berufe im Kultur- und Medienbereich ein. In einigen Branchen mit geschützten Berufen, wie z.B. in der Architektur, müssen die in der Ukraine erworbenen Berufsabschlüsse erst anerkannt werden. Ähnliches gilt für die künstlerische Lehre. Im Kulturbereich gibt es aber auch eine Vielzahl von ungeschützten Berufen, in denen die Fortsetzung der beruflichen Tätigkeit weniger reglementiert ist.

 

  • Um den Einstieg in den Arbeitsmarkt zu erleichtern, fordert der Deutsche Kulturrat,
    • dass bezüglich der vorzulegenden Abschlüsse und Zeugnisse die Arbeitgeber aus Kultur und Medien kulant agieren, da viele Geflüchtete jene Dokumente aufgrund ihrer Flucht nicht vorweisen können,
    • dass spezifische Sprachkurse für den Kulturbereich angeboten werden, um die fachspezifische Kommunikation zu erleichtern,
    • dass Städte und Gemeinden wie auch Länder in öffentlichen Kultureinrichtungen Flexibilität bei den Stellenplänen ermöglichen, damit der Zugang zum Arbeitsmarkt für geflüchtete Mitarbeitende aus dem Kultursektor geöffnet wird.

 

Dezentrale Hilfen aus dem Kulturbereich für Kunst- und Kulturschaffende

 

Viele Hilfen für aus der Ukraine geflohene Kunst- und Kulturschaffende sowie Mitarbeitende aus Kultureinrichtungen erfolgen aus bürgerschaftlichem Engagement dezentral vor Ort. Die Hilfsangebote kommen aus allen künstlerischen Sparten, allen Regionen und kulturellen Bereichen und richten sich vor Ort an Berufskollegen und -kolleginnen. Es handelt sich um die Bereitstellung von Räumen, Instrumenten und anderem mehr, damit ukrainische Kunst- und Kulturschaffende üben und arbeiten können. Sehr viele kleine und große Kulturorganisationen leisten schnelle und unbürokratische Hilfe. Damit bieten sie zugleich einen Einblick in das kulturelle Leben und den Kulturmarkt in Deutschland.

 

  • Um dieses Engagement aus der Kulturbranche zu unterstützen, fordert der Deutsche Kulturrat,
    • dass die Städte, Gemeinden und Kirchen solche unbürokratischen Hilfen durch die Bereitstellung von Räumen oder auch die Übernahme von Mietkosten unterstützen,
    • dass Bund und Länder Stipendien, Residenzprogramme und Projektmittel für ukrainische Kunst- und Kulturschaffende auflegen, damit sie nicht nur auf die ehrenamtliche Hilfe von Kollegen und Kolleginnen angewiesen sind,
    • dass die Künstlersozialkasse kulant mit Blick auf die für den Zugang erforderlichen Dokumente umgeht, damit freiberufliche Künstlerinnen und Künstler sowie Publizistinnen und Publizisten sich in der Künstlersozialkasse sozialversichern können.

 

Gleichzeitig findet ein Kulturaustausch mit ukrainischen Kunstschaffenden statt, die in der Ukraine produzieren und die auf Zeit nach Deutschland kommen, um hier zu arbeiten.

 

  • Um diese Gastspiele zu ermöglichen und zu unterstützen, fordert der Deutsche Kulturrat,
    • dass Bund und Länder Mittel für den Kulturaustausch mit der Ukraine bereitstellen sowie schnell und unbürokratisch Gastspiele unterstützen.

 

Exilkultur

 

In Deutschland bestehen verschiedene Diasporakulturen von Künstlerinnen und Künstlern, die hier im Exil leben. Dementsprechend gibt es auch schon länger eine ukrainische Exilkultur. Die Exilkultur erlaubt die Pflege und die Weiterentwicklung der künstlerischen Ausdrucksformen und Sprachen des Heimatlandes. Sie kann ein Zuhause in der Fremde bedeuten. Der Exilkultur muss Wertschätzung entgegengebracht werden, die sich auch in konkreter Förderung ausdrücken muss. Zugleich muss vermieden werden, dass Stigmatisierungen entstehen. Viele Künstlerinnen und Künstler oder auch Publizistinnen und Publizisten suchen aber auch bewusst Anschluss an die hiesige Kunstszene. Sie wollen in Deutschland mit den hier lebenden Kolleginnen und Kollegen arbeiten, in den Austausch treten und gerade nicht in ihrer eigenen Community verbleiben. Sie bereichern das vielstimmige kulturelle Leben im Einwanderungsland Deutschland.

 

  • Um die Exilkultur zu unterstützen, fordert der Deutsche Kulturrat,
    • dass die bestehenden Unterstützungsprogramme für exilierte Künstlerinnen und Künstler ausgeweitet und auf weitere künstlerische Sparten ausgedehnt werden,
    • dass Exilkultur in öffentlichen Kultureinrichtungen einen höheren Stellenwert erhält und Kunst und Kultur aus Exilländern vermehrt ausgestellt oder aufgeführt wird, denn hier besteht ein großer Nachholbedarf,
    • dass Exilensembles nachhaltig aufgebaut und gefördert werden sowie Literatur von Exilkünstlerinnen und -künstlern übersetzt wird, damit so ein Zugang zum Kulturmarkt ermöglicht wird,
    • dass die Zusammenarbeit von Kunstschaffenden im Exil und Kunstschaffenden, die dauerhaft in Deutschland leben, gefördert wird und als Chance zur Erweiterung und Bereicherung der Kulturszene in Deutschland gesehen wird.

 

Schutz von Kulturgut in der Ukraine

 

Viele Beschäftigte in Kultureinrichtungen in Deutschland haben in den letzten Monaten – teils auf ehrenamtlicher Basis –, koordiniert durch verschiedene Fachverbände aus dem Kultursektor, Hilfe bei der Bewahrung von Kulturgütern in der Ukraine geleistet. Sie haben die nötigen Materialien zur Rettung ukrainischer Kulturgüter gesammelt und in die Ukraine verbracht. Die Digitalisierung von ukrainischem Kulturgut wurde unterstützt und Digitalisate wurden in Deutschland gespeichert. Dabei kann auf die gewachsenen Arbeitsbeziehungen zu ukrainischen Kulturinstitutionen gebaut werden. Je länger der Krieg andauert, desto mehr wird bekannt, dass gezielt ukrainische Kulturgüter zerstört oder auch wertvolles Kulturgut nach Russland verbracht wird.

 

Der Deutsche Kulturrat begrüßt, dass im Haushalt 2022 von Kulturstaatsministerin Roth 20 Mio. Euro an zusätzlichen Haushaltsmitteln für die Ukrainehilfe vorgesehen sind. Ein Teil dieser Mittel ist für die Rettung des materiellen Kulturguts gedacht. Der Deutsche Kulturrat fordert, dass diese Mittel in enger Abstimmung mit den jeweiligen Fachverbänden, die sich bereits vor Ort engagieren, vergeben werden, um weitere zielgenaue Hilfen zu ermöglichen.

 

  • Um das Kulturgut in der Ukraine zu schützen, fordert der Deutsche Kulturrat,
    • dass der Bund weitere Mittel zur Sicherung und Rettung von Kulturgut zur Verfügung stellt,
    • dass eng mit den jeweiligen Fachorganisationen zusammengearbeitet wird, um Kulturgut systematisch zu erfassen und zu retten,
    • dass der Vorschlag, Odessa zum Weltkulturerbe zu erklären, mit Nachdruck und im Schulterschluss mit anderen UNESCO-Mitgliedstaaten verfolgt wird,
    • dass sich Deutschland im EU-Kulturministerrat sowie im G7-Kontext für den gemeinsamen Schutz von Kunst und Kultur in der Ukraine einsetzt,
    • dass nach Russland verbrachtes Kulturgut unmittelbar nach dem Krieg wieder an die Ukraine restituiert wird,
    • dass sichergestellt wird, dass im Krieg erbeutetes Kulturgut nicht in den Handel gebracht wird.

 

Unterstützung des kulturellen Lebens und des Kulturschaffens in der Ukraine

 

Nach wie vor gibt es in der Ukraine ein öffentliches kulturelles Leben und einen Kulturmarkt. Viele Kultureinrichtungen und Unternehmen der Kultur- und Kreativwirtschaft wollen so schnell wie möglich ihre Türen wieder öffnen bzw. halten auch jetzt noch ihren Betrieb unter schwierigen Bedingungen aufrecht.

 

  • Um die Kultur- und Kreativwirtschaft in der Ukraine zu unterstützen, fordert der Deutsche Kulturrat,
    • dass ukrainische Kunst und Kultur verstärkt in Deutschland präsentiert werden,
    • dass zuwendungsrechtliche Rahmenbedingungen zur direkten finanziellen Unterstützung von ukrainischen Kulturinstitutionen geschaffen werden.

 

Kulturelle Bildung

 

Einrichtungen der kulturellen Bildung, Kultur- und Bildungseinrichtungen sowie Kulturvereine haben in den Jahren 2015 bis 2017 Erfahrungen in der Bildungsarbeit mit Geflüchteten gesammelt. Sie haben in beträchtlichem Umfang Know-how in der Arbeit mit Geflüchteten aufgebaut und sind für die vielschichtigen Anforderungen qualifiziert. An diese Kompetenzen und Erfahrungen wird nun bei Angeboten der kulturellen Bildung angeknüpft. Viele richten sich insbesondere an Kinder und Jugendliche, um positive Erlebnisse zu ermöglichen und dabei zu unterstützen, traumatische Kriegs- und Fluchterlebnisse durch künstlerische Ausdrucksformen und Gemeinschaft zu verarbeiten. Vieles wird unmittelbar in Erstaufnahmeeinrichtungen angeboten. Einrichtungen der kulturellen Bildung, Kulturvereine sowie Kultur- und Bildungseinrichtungen bieten aber auch die Möglichkeit als Dritte Orte, kostenfreie Angebote bereitzuhalten und damit denjenigen, die oftmals in beengten Verhältnissen in Erstaufnahmeeinrichtungen leben, Räume zu bieten, in denen sie die Schrecken des Krieges für eine Zeitspanne hinter sich lassen können und anstelle von Ohnmachtsgefühlen wieder Selbstwirksamkeit erfahren.

 

  • Um die Potenziale der kulturellen Bildung für Geflüchtete aus der Ukraine besser entfalten zu können, fordert der Deutsche Kulturrat,
    • dass in den Erstaufnahmeeinrichtungen Angebote der kulturellen Bildung offensiv bekannt gemacht und für deren Bewerbung Mittel bereitgestellt werden,
    • dass auf die bestehenden Netze der kulturellen Bildung vor Ort, die sich durch eine Trägervielfalt auszeichnen, von Seiten der Kommunalverwaltungen zugegangen wird und Fördermittel zur Verfügung gestellt werden,
    • dass neben den kurzfristigen Projekten eine dauerhafte Sicherung der Strukturen kultureller Bildung gerade mit Blick auf die Arbeit mit Geflüchteten erfolgt,
    • dass gute Praxisbeispiele von humanitären Hilfsorganisationen und Kulturakteuren gesammelt und zur Entwicklung gemeinsamer Strategien und Reaktionspläne bei künftigen Krisen- und Katastrophenfällen zur Verfügung gestellt werden.

 

Brücken bauen und aufrechterhalten

 

Kunst und Kultur können Brückenbauer sein. Kunst und Kultur bieten spezifische Formen der Begegnung und des Austauschs. Diese können abseits des politischen Tagesgeschäfts erfolgen, finden aber niemals jenseits der Politik statt.

 

Auch wenn es derzeit schwierig ist und die Solidarität zuerst den Menschen in der Ukraine gilt, dürfen die Brücken zu Russland nicht eingerissen werden. Aktuell sind die allermeisten Kontakte zu staatlichen Kultureinrichtungen in Russland vorerst auf Eis gelegt. Kontakte zu Kunstschaffenden bestehen – wenn auch unter schwierigen Bedingungen – teilweise noch. Mittelfristig müssen Perspektiven entwickelt werden, um wieder in eine Phase des kulturellen Tauwetters einzutreten und die bestehenden Kontakte vor allem zu zivilgesellschaftlichen Akteuren wiederzubeleben und zu pflegen. Dies gilt insbesondere mit Blick auf die Stärkung des demokratischen Potenzials von Kunst- und Kulturschaffenden sowie Organisationen der Zivilgesellschaft.

 

Mit Blick auf die Ukraine muss im Rückblick allerdings selbstkritisch festgestellt werden, dass trotz aller Begegnungen und des bestehenden Austauschs in Deutschland das Interesse und Verständnis für die spezifische Situation in den Ländern Osteuropas unzureichend war. Der Blick wurde stärker nach Russland als auf die osteuropäischen Nachbarstaaten gerichtet. Osteuropäische Länder, wie die Ukraine, wurden vor allem als postsowjetische und weniger als europäische Staaten mit auch anderen historischen Bezügen und einer eigenständigen Kunst und Kultur gesehen.

 

  • Um das Verständnis für die osteuropäischen Staaten zu fördern und damit die Basis für partnerschaftliche Zusammenarbeit zu verbessern, fordert der Deutsche Kulturrat,
    • dass die Erkenntnisse und Kompetenzen der Osteuropawissenschaften breiter wahrgenommen und rezipiert werden,
    • dass die Osteuropawissenschaften an den Universitäten gestärkt werden, dies gilt auch mit Blick auf Forschung und Lehre der osteuropäischen Sprachen,
    • dass osteuropäische Kunst und Kultur in ihrer Vielschichtigkeit und ihrem Beitrag zur europäischen Moderne vermehrt präsentiert und Literatur aus diesen Ländern übersetzt werden,
    • dass der Jugendkulturaustausch systematisch partnerschaftlich auf der Basis zivilgesellschaftlicher Strukturen auf- und ausgebaut wird.

 

Die Solidarität und das Engagement des Deutschen Kulturrates gilt in diesen Tagen und Monaten zuerst und besonders den Menschen in der Ukraine und den Geflüchteten, deren Perspektiven und Geschichten gehört und wahrgenommen werden müssen. Der Deutsche Kulturrat ruft dazu auf, diese Solidarität mit der Ukraine auf dem kulturellen Sektor mit langem Atem aufzubauen und weiterzuentwickeln sowie Kräfte für den kulturellen Wiederaufbau in der Ukraine zu sammeln.

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