Pauschale Diskriminierung von Russen: njet

Reaktion des Friedrichstadt-Palast Berlin

Als ich am Morgen des 24. Februar vom Überfall auf die Ukraine hörte, dachte ich an unser internationales Ensemble. Schon kurz nach 9 Uhr postete ich als Intendant auf den Social-Media-Seiten unseres Theaters dieses Statement: „Am Palast haben wir Kolleg:innen aus über 25 Nationen, auch aus der Ukraine und Russland. Unter unserem Leitbild ›Respect each other‹ arbeiten wir vertrauensvoll, viele auch privat befreundet, miteinander und schaffen gemeinsam große und schöne Kunst auf der Bühne. Unverständnis und Sorge über diesen Krieg der staatlichen und militärischen Führung Russlands dürfen nicht umschlagen in Unverständnis und Wut auf russische oder russischstämmige Menschen und Mitmenschen. Am Palast werden wir auch in diesen Tagen und Wochen weiter respektvoll miteinander umgehen, selbstverständlich auch mit unseren russischen und russischstämmigen Kolleg:innen. Unser Mitgefühl und unsere einhundertprozentige Solidarität sind bei unseren Kolleg:innen aus der Ukraine, die sich in diesen Stunden zu Recht größte Sorgen um ihre Familien und ihr Land machen.“

 

Schnell bestätigten sich Befürchtungen, dass russische Menschen für einen Krieg verantwortlich gemacht werden, den sie nicht begonnen haben. Selbst russischstämmige Kinder in deutschen Schulen mussten als billiges Ventil und Blitzableiter herhalten. Und russische Künstlerinnen und Künstler. Selbst verstorbene Literaten und Komponisten mussten dran glauben.

 

Wir sollten mit unserem germanischen Furor in Moralfragen sehr zurückhaltend sein. Als Deutscher werde ich bei Reisen oder künstlerischen Projekten in Israel, Polen, Russland oder Ukraine auch nicht gefragt, wie ich zu Faschismus und Nazismus stehe. Auch nicht als Enkel eines SS-Obersturmbannführers, der 1943, ironischerweise nahe Charkiv, erschossen wurde.

 

Welches Recht sollte ich als Intendant haben, russische Künstlerinnen und Künstler zu fragen, wie sie es mit Putin halten? Allein die Überlegung halte ich für geschichtsvergessen.

 

Es gibt keine aktive Pflicht zur Distanzierung. Es gilt die Unschuldsvermutung.

 

Umgekehrt gilt meiner Meinung nach schon: Wer Putins Krieg aktiv gutheißt, hat in der zivilisierten Welt ausgespielt. Waleri Gergijew und Anna Netrebko sind mit ihrer offensichtlichen Nähe und Verstrickung mit Putins Regime sicherlich auch noch mal ein anderes Level, da kann man schon explizit nachfragen – und keine oder eine nichtssagende Antwort ist dann auch eine Antwort. Man kann, anders als die Netrebko das gerne hätte, die Kunst nicht von der Person trennen. Auch Leni Riefenstahl hat Bahnbrechendes für den Film geleistet und blieb, völlig zu Recht, in der Rezeption doch immer toxisch.

 

Zurück zum Palast: Schon 2014 hatten wir Künstlerinnen und Künstler, die von der Krim kamen. Die Mitglieder des Ensembles geben die Weltpolitik nicht an der Pforte ab, sondern bringen sie mit ins Gebäude. Die Konflikte in der Ukraine waren immer präsent bei uns. Auf die Politik haben wir keinen Einfluss, aber darauf, wie wir damit umgehen. Und bei aller emotionalen und persönlichen Betroffenheit versuchen doch alle bei uns, kultiviert und respektvoll damit umzugehen. Am Palast gibt es keine Gesinnungsprüfungen und keinen Generalverdacht, weil man einen russischen Pass hat. Unseren Tänzerinnen und Tänzern, Artistinnen und Artisten aus Russland haben wir angeboten, dass wir sie unterstützen, falls sie außerhalb des Hauses Anfeindungen erleben.

 

Natürlich wirkt der Krieg tief hinein in unser Ensemble. Die ukrainischen Kolleginnen und Kollegen machen sich größte Sorgen um ihre Familien daheim, die russischen und belarussischen ebenfalls, wenn auch teilweise aus unterschiedlichen Gründen. Entsetzen und Scham, Ohnmacht und gegenseitige Unterstützung vermischen sich in unserem Ensemble.

Derweil wird in Russland trotz Gefahren und Repressionen der Widerstand russischer Künstlerinnen und Künstler stärker. Es gibt zahlreiche russische Kulturverantwortliche, die aus Protest gegen Putin ihre offiziellen Ämter niederlegen. Der russische Dirigent Ivan Velikanov sagte in einem Interview mit der Deutschen Welle: „Wenn pauschal alle schuldig gesprochen werden, wirkt das wie blinde Rache. Ich verstehe, dass es ein Ausdruck der Solidarität ist, aber dieses Vorgehen ist irgendwie sinnlos, aggressiv, und vor allem trifft es meistens die Falschen.“

 

Zur Erinnerung: Wir Deutschen haben uns zwölf Jahre lang auch nicht selber vom Tyrannen befreit. Das mussten alliierte, insbesondere auch russische Soldatinnen und Soldaten unter schrecklichen Verlusten für uns tun. Die Demokratie, zunächst nur auf westdeutscher Seite, haben andere für uns erkämpft, und wir haben diese Befreier fanatisch bis zur letzten Patrone und am Schluss selbst noch mit Kindersoldaten bekämpft. Wenn es um Krieg und Moralfragen geht, würde ich sagen, ist schuldbewusstes Klappe-Halten erste Bürgerpflicht für Deutsche und deutsche Kulturinstitutionen.

 

Hundertprozentige Solidarität und Unterstützung der Menschen in der Ukraine, selbstverständlich. Moralische Belehrungen und pauschale Diskriminierung von Russinnen und Russen: njet.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 04/22.

Berndt Schmidt
Berndt Schmidt ist Intendant des Friedrichstadt-Palast Berlin.
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