Dass heute so viele Menschen in Not in unserem Land den freien und sicheren Ort erkennen, der ihnen Schutz und Hilfe gewährt, ist angesichts der deutschen Geschichte ebenso erstaunlich wie ermutigend. Ein wirklicher Grund, stolz zu sein, ist die imponierende Bereitschaft der in Deutschland lebenden Menschen, diese humanitäre Herausforderung anzunehmen – trotz aller berechtigten Sorgen, wie wir mit dem anhaltenden Zustrom in unseren Kommunen fertig werden und die Kontrolle über das eigene Land, seine Grenzen und seine Rechtsordnung behaupten können.
Die spontane, freiwillige und ehrenamtliche Hilfe der Bevölkerung ist die überzeugendste Antwort auf dumpfe Vorbehalte und offenen Fremdenhass, die leider auch zur gesellschaftlichen Realität gehören. Europa steht in der Pflicht. Es kann weder seine Grenzen hermetisch abriegeln, noch die Grenzen für alle öffnen. Nicht jeder, der vor Not und Armut flüchtet, wird nach Deutschland kommen oder hier bleiben können. Das Asylrecht ist und bleibt aber die unantastbare Selbstverpflichtung unserer Verfassung und unserer Geschichte und die Menschenwürde gilt ausnahmslos für alle, die hier leben, unabhängig davon, wie lange sie hier sind und wie lange sie bleiben können.
„(…) Willkommenskultur baut auf unseren Werten und Prinzipien, auf unseren Vorstellungen von Humanität, Demokratie und Menschenrechten.“
Die humanitäre Ausnahmesituation wird nicht schnell vorübergehen, wir werden deshalb staatlichen Behörden und gesellschaftlichen Einrichtungen in den nächsten Monaten einiges abverlangen müssen – im Übrigen auch den Flüchtlingen, wenn über den Tag hinaus Integration gelingen soll. Die vielerorts anzutreffende Willkommenskultur baut auf unseren Werten und Prinzipien, auf unseren Vorstellungen von Humanität, Demokratie und Menschenrechten. Sie ist Ausdruck eines Verfassungs- und Gesellschaftsverständnisses, das wir auch von den Flüchtlingen erwarten dürfen.
Die große humanitäre, politische und kulturelle Herausforderung wird Deutschland verändern. Ich bin sicher, dass dies letztlich zum Vorteil unseres Landes geschieht, wenn wir so mutig und entschlossen handeln, wie das auch bei anderen großen Herausforderungen, zuletzt bei der Finanz- und Bankenkrise, geschehen ist.
Dieser Text ist zuerst in Politik & Kultur 06/2015 erschienen.