Verantwortung für das Kulturerbe

Dem Aufbau von Resilienz im Kulturgutschutz kommt eine zentrale Bedeutung zu

Wenn wir Menschen beschreiben, die selbst widrigste Situationen gut bewältigen können, verwenden wir gerne das Bild des Stehaufmännchens, das in der Lage ist, sich aus jedem Neigungswinkel von selbst wiederaufzurichten. Die Psychologie hat für diese Qualität den Begriff der Resilienz geprägt. Resilienz ist dabei nicht etwa Teil einer Grundausstattung, sondern muss erlernt werden. Der Begriff hat mittlerweile auch Eingang in den Themenkreis von Kulturgutschutz und kulturgutbezogener Notfallvorsorge gefunden. Mitgemeint sind neben der Bewältigung auch Maßnahmen, die auf die Reduzierung oder Vermeidung von Gefährdungen und Zerstörungen abzielen. In besonderem Maß gilt das für die vielfältigen, in immer kürzeren Abständen spürbaren Auswirkungen des Klimawandels. Dass dem Aufbau von Resilienz im Kulturgutschutz daher eine zentrale Bedeutung zukommt, wird von niemandem bestritten.

 

Angesichts von Katastrophenereignissen, die zunehmend vor der eigenen Tür eintreten, wächst das Bewusstsein dafür, dass Kulturgut ganz allgemein das ist, was über die Zeiten bewahrt werden konnte. Alle Epochen waren von ihren eigenen Katastrophen gezeichnet, und doch haben wir ein reiches kulturelles Erbe antreten können. Wir stehen somit in einer Reihe, in der wir im „Jetzt“ in der Verantwortung stehen, die Linie des Bewahrens nicht abreißen zu lassen. Für das Bundesarchiv und die Deutsche Nationalbibliothek wiegt diese Verantwortung besonders schwer.

 

Das Bundesarchiv verwahrt in seinen Beständen allein rund 540 Kilometer Schriftgut, dessen älteste Teile in die Zeit des Alten Reiches zurückreichen. Würde man es aufreihen, könnte man auf einer Strecke von Berlin nach Frankfurt am Main daran entlangfahren, wobei Karten, Filme, Fotos und Töne noch nicht einmal eingerechnet sind. Die schriftliche Überlieferung besteht größtenteils aus Originalen. Die Deutsche Nationalbibliothek ist das kulturelle Gedächtnis Deutschlands für alle Medienwerke, die seit 1913 in und über Deutschland oder in deutscher Sprache veröffentlicht werden. Mit dem einzigartigen Bestand von fast 400 Kilometern lässt sich mühelos die Distanz zwischen ihren beiden Standorten Leipzig und Frankfurt am Main überbrücken. Als zentrale Infrastruktur agiert sie als unverzichtbare Partnerin und Dienstleisterin, besonders in der schnell wachsenden Welt der Digital Humanities, und beantwortet komplexe Fragen von Gesellschaft und Wissenschaft mit einem breiten Spektrum an Dienstleistungen. Ein Katastrophenfall hätte somit für beide Einrichtungen den irreversiblen Verlust von buchstäblich „ein-maligem“ Kulturgut zur Folge.

 

Schon die schieren Dimensionen machen beide Häuser zu Leuchttürmen des kulturellen Erbes in Deutschland, allerdings treten sie nicht als Einzelkämpfer, sondern als Teamplayer an. Die stetig wachsende Zahl der regionalen Notfallverbünde macht deutlich, wie wichtig Solidarität und Kooperation in der Fläche sind. Die Verbünde pflegen die Kommunikation mit den Verantwortlichen in Kommunen und Ländern, sorgen für effektive Vernetzung der Partner und realisieren nicht zuletzt die dringend erforderliche Verzahnung von kulturgutbezogener Notfallvorsorge und allgemeinem Katastrophenschutz. Die Mitgliedschaft des Bundesarchivs und seiner Außenstellen in insgesamt 13 Notfallverbünden spricht für sich. Auch die Deutsche Nationalbibliothek hat sich im Notfallverbund Leipzig gemeinsam mit anderen Einrichtungen organisiert und ist derzeit an der Planung eines Notfallverbundes für den Standort Frankfurt am Main mit anderen Kultureinrichtungen beteiligt. Wenn wir uns als Leiter der beiden großen Kulturerbe-Institutionen Bundesarchiv und Deutsche Nationalbibliothek für eine nachhaltige Förderung der Notfallvorsorge im Kulturgutschutz stark machen, tun wir dies somit nicht nur in eigener Sache.

 

Die gute Nachricht lautet: Wir müssen dafür nicht bei Null beginnen. In den vergangenen Jahren wurde auf nationaler und internationaler Ebene ein konkreter Handlungsrahmen erarbeitet, der dem Aufbau von Resilienz im Kulturgutschutz dient. Stellvertretend für andere sei etwa die von der EU veröffentlichte Studie „Stärkung der Resilienz des Kulturerbes gegen den Klimawandel“ aus dem Jahr 2022 genannt. Strategien verringern allerdings per se noch nicht das Bedrohungspotenzial. Auch wenn wir wissen, was zu tun ist, liegt die gewaltige Aufgabe der konkreten Umsetzung noch vor uns. Die Kluft, die zwischen den theoretischen Lösungen und den praktischen Maßnahmen klafft, lässt sich nicht mit punktueller Anstrengung schließen. Zwar können mit Sondermitteln oder zeitlich befristeten Projektförderungen wichtige Vorhaben wie die Beschaffung mobiler Erstversorgungszentren oder die Digitalisierung einzelner Bestände realisiert werden. Wirksamer Kulturgut- und Katastrophenschutz passt jedoch nicht in einen Notfallkoffer, sondern vollzieht sich in großem Maßstab und über lange Zeiträume. Die Herstellung von Resilienz ist eine Daueraufgabe, zu deren Erfüllung es die konsequente Unterstützung durch die Politik dringend braucht.

Die konkrete Unterstützung muss vor allem in einer verlässlichen Bereitstellung von Haushaltsmitteln bestehen, um die erforderliche Planungssicherheit für mittel- und langfristige Vorhaben herzustellen. Dazu zählen die flächendeckende sachgerechte Verpackung von Archivalien und Bibliotheksmedien sowie deren optimale Lagerung. Gut verpacktes Kulturgut verfügt über einen wirksamen ersten Schutz gegen Schädlingsfall und eindringende Feuchtigkeit, und günstige Lagerungsbedingungen sorgen für einen langfristig guten Erhaltungszustand. Die mit fortschreitender Klimaerwärmung erforderliche Kühlung der entsprechenden Magazine führt allerdings zu dauerhaft hohen Energiekosten, die aufgrund steigender Rohstoffpreise weiter in die Höhe schnellen. Daher muss, wo immer möglich, die Errichtung nachhaltiger, weil energieeffizienter Magazinbauten angestrebt werden. Die Durchführung zusätzlicher Erhaltungs- und Sicherungsmaßnahmen insbesondere durch Digitalisierung von Beständen wird dadurch nicht obsolet, sondern ist im Gegenteil unverzichtbarer Bestandteil einer mehrdimensionalen Gesamtstrategie. Die Überführung von Kulturgut in die virtuelle Welt erleichtert nicht nur den Zugang, sondern kann Kulturgut auch vor dem endgültigen Verlust retten. Dies zeigt sich derzeit deutlich in der Ukraine, wo russische Angriffe immer wieder auf die Vernichtung von Kulturgütern als Kristallisationspunkte für die kulturelle Identität der Menschen in dem überfallenen Land abzielen.

Daneben ist die Finanzierung fester Personalstellen und die Bereitstellung von Mitteln für das Risiko- und Notfallmanagement in den Einrichtungen selbst unabdingbar. Kulturgutschutz darf also keine Nischenexistenz in Tätigkeitsbeschreibungen fristen, sondern muss von einschlägig qualifiziertem und regelmäßig geschultem Personal vor Ort ausgeübt werden. Der Dynamik der Situation entsprechend müssen vor allem regelmäßige Monitoringmaßnahmen durchgeführt werden, um sich verändernde Rahmenbedingungen frühzeitig zu erkennen sowie Risikoanalysen und Maßnahmenkataloge aktuell zu halten. Nur so kann die alles entscheidende Reaktionsfähigkeit der Kulturerbe-Institutionen beim Eintritt von Katastrophenfällen gewährleistet werden.

 

Die Politik muss schlussendlich Strukturen schaffen – und vor allem konsolidieren –, damit Wissen gebündelt, Erfahrungen ausgetauscht und Best Practices nachgenutzt werden können. Es darf nicht zugelassen werden, dass das Beispiel des „SicherheitsLeitfaden Kulturgut„ (SiLK) Schule macht und entsprechende Strukturen der Unterfinanzierung erliegen. Denn erst die Schaffung von Synergien sorgt dafür, dass die bereitgestellten Mittel in die Breite und damit auch nachhaltig wirken. Insofern bilden Kristallisationspunkte für Wissensvermittlung und gemeinsames Handeln die Basis für einen erfolgreichen Katastrophen- und Kulturgutschutz.

Das lückenlose Monitoring der veränderlichen Rahmenbedingungen, ein angemessenes Reagieren auf neue Gegebenheiten und vor allem die Durchführung geeigneter Maßnahmen müssen eine Einheit bilden. All dies erfordert Einsicht in die Notwendigkeit eines ebenso dauerhaften wie konkreten Engagements auf vielen Ebenen. Wer hingegen glaubt, dass „Kulturgutschutz light“ das Schlimmste verhindern werde und sich ansonsten in Zweckoptimismus übt, der sollte sich vergegenwärtigen, dass es „Hochwasser light“ebenso wenig gibt wie „Hitze light“. Größere Katastrophen kommen die gesamte Gesellschaft teuer zu stehen. Die Schadensbehebung bei Extremereignissen übersteigt die Kosten für den vorausschauenden Umgang mit Risiken um ein Vielfaches.

 

Notfallvorsorge im Kulturgutschutz wird oft erst dann schmerzhaft sichtbar, wenn sie fehlt. Unser kulturelles Erbe ist unersetzlich – und wenn wir es verlieren, bleiben nur Lücken, die durch nichts gefüllt werden können. Dabei geht es nicht nur um den Verlust materieller Werte, sondern wir verspielen das Erbe, das wir bewahren müssen. Kulturelles Erbe ist das Fundament, auf dem unsere Gesellschaft ihre Identität aufbaut. Es verbindet uns mit unseren Wurzeln, erzählt die Geschichten vergangener Generationen und prägt unser kollektives Bewusstsein. Wir dürfen unsere Verantwortung nicht auf die leichte Schulter nehmen. Im Gegenteil: Wir müssen mit vereinten Kräften für den Kulturgutschutz und vor allem die Notfallvorsorge unser Kulturerbe mit Stehaufmännchen-Qualitäten ausstatten. Dafür stehen wir als kulturgutbewahrende Einrichtungen aus tiefer Überzeugung ein.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2024.

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Michael Hollmann ist Präsident des Bundesarchivs. Frank Scholze ist Generaldirektor der Deutschen Nationalbibliothek
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