Soziale Ächtung

Ein legitimes Mittel?

Die gegenwärtige Diskussion, wie mit Putin-nahen Künstlern aus Russland umzugehen sei, erinnern mich an ein Gespräch, das ich vor einigen Jahren mit einem alten Bankkaufmann geführt habe. Wir sprachen über die Finanzkrise 2008, ihre Gründe, Abgründe und Folgen. Der alte Mann war entsetzt über das, was sich da in seinem ehemaligen Arbeitsfeld abspielte, und fühlte sich durch die skandalösen Vorgänge in seiner Berufsehre verletzt. Nicht zuletzt empörte ihn, dass die Hauptverantwortlichen mehr oder weniger ungeschoren davongekommen waren. Weder seien sie für ihre Verfehlungen bestraft worden, noch hätten sie Vermögenseinbußen hinnehmen müssen. Den Schaden hatten andere – ganze Volkswirtschaften und ungezählte Einzelpersonen. Mit einer Mischung aus Resignation und Trotz erklärte er schließlich: „Da bleibt dann nichts anderes übrig als die soziale Ächtung.“

 

So scheint es dann auch gekommen zu sein. Die meisten, die die Schuld an der Finanzkrise trugen, wurden von keinem Gericht bestraft, mussten keine Entschädigungen zahlen, verloren zwar ihre Posten, blieben aber immer noch sehr vermögend. Doch viele von ihnen wurden sozial geächtet. Einstmals verehrte und gefürchtete Banker und Finanzjongleure wurden nicht mehr eingeladen, hofiert, auf renommierte Positionen berufen, von ihren früheren Kollegen angerufen oder auch nur gegrüßt. Sie waren draußen. Ihr vorzeitiger Ruhestand wurde einsam, eine chronische narzisstische Kränkung. War das eine angemessene und gerechte Strafe? Brachte sie den Geschädigten Genugtuung? Hatte sie eine abschreckende Wirkung auf andere? Und schließlich: Wäre diese Art sozialer Ächtung ein Modell für den Umgang mit Künstlern, Sportlern, Politikern und Wirtschaftsführern, die weithin sichtbar als Werbefiguren für den russischen Diktator auftraten und sich hiervon nicht distanzieren wollen?

 

Man kann soziale Ächtung als den Versuch verstehen, dort für Gerechtigkeit zu sorgen, wo der Rechtsstaat ausfällt – weil das Vergehen keine Straftat im präzisen Sinne war, weil seine Mittel hier nicht wirken oder weil der politische Wille fehlt, ihm die geeigneten Mittel zur Verfügung zu stellen. Dann ist soziale Ächtung eine Art Notrecht der Schwachen und Geschädigten: Wo die Staatsanwaltschaften und Gerichte untätig bleiben oder nicht vorankommen, distanzieren wir uns von diesen Personen, brechen wir den Kontakt ab, nehmen wir ihre Arbeit nicht mehr wahr, hören wir ihnen nicht mehr zu. Wenn viele das tun, wird die Ächtung zu einem sehr wirkungsvollen Instrument – im Notfall.

 

Die Problematik der sozialen Ächtung allerdings liegt offen zutage. Ihr geht eben kein rechtsstaatliches Verfahren voraus. Hier sind Anklage und Urteil eins, eine Verteidigung ist nicht vorgesehen oder wird nicht gehört. Das öffnet das Tor zu Willkür und neuen Ungerechtigkeiten. Häufig entscheiden zufällige, medial aufgeputschte Stimmungen, wen es trifft und wen nicht. Ein Konformismus der Aggression übernimmt die Macht: Wenn sich alle auf eine Person eingeschossen haben, braucht es großen Mut, um für Mäßigung oder gar Schonung zu plädieren. Nicht selten begegnet man dann Wellen der Heuchelei: Nicht wenige, die lautstark Ächtung einfordern, haben noch vor Kurzem tiefe Diener gemacht. Das ist kein schöner Anblick. Und schließlich kann die soziale Ächtung Menschen in Mitleidenschaft ziehen, die mit der umstrittenen Sache gar nichts zu tun haben.

 

Dennoch ist die soziale Ächtung ein Mittel, sich gegen einen Feind und dessen Unterstützer zur Wehr zu setzen. Es in einem Notfall, einem Verteidigungsfall einzusetzen, kann gerechtfertigt sein. Nur sollte man dieses dabei bedenken: Man sollte vorher ruhig und kühl nachgedacht haben, man sollte überzeugende Gründe besitzen, man sollte keiner Gruppendynamik folgen und keinem Jagdrausch verfallen, man sollte sich am Erfolg des eigenen Engagements nicht erfreuen, man sollte am Anfang schon über das Ende nachdenken und überlegen, wie für den Geächteten ein Weg zurück möglich sein könnte. Oder wie der Weisheitslehrer ­Jesus Sirach geschrieben hat: „Verdamme niemanden, ehe du die Sache untersucht hast; denke erst nach und tadle dann. Du sollst nicht urteilen, ehe du die Sache gehört hast, und lass die Leute ausreden. Misch dich nicht in eine fremde Sache, und sitze nicht zusammen mit Sündern zu Gericht.“

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 04/22.

Johann Hinrich Claussen
Johann Hinrich Claussen ist Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland.
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