Kultur umgibt den Alltagsmenschen der Spätmoderne

Der Soziologe Andreas Reckwitz im Gespräch

Andreas Reckwitz, Soziologe und Kulturwissenschaftler, ist bekannt für seine einflussreichen Arbeiten zur Subjektivierung, Kreativität und Singularisierung des Sozialen. Im Sommersemester 2020 wird er an die Humboldt-Universität zu Berlin wechseln, er nahm den Ruf auf den Lehrstuhl Allgemeine Soziologie an. Zuvor spricht Hans Jessen mit ihm unter anderen über die Bedeutung der Kultur in Reckwitz’ Forschungen.

 

Hans Jessen: Herr Professor Reckwitz, mit dem Begriff „Gesellschaft der Singularitäten“ bezeichnen Sie einen fundamentalen Strukturwandel der spätmodernen Gesellschaft. Sie konstatieren, der industrielle Kapitalismus sei im Verlauf der letzten 50 Jahre durch den kulturellen Kapitalismus abgelöst worden. Was meint „Singularität“ als zentrales Merkmal dieses neuen Gesellschaftszustands?
Andreas Reckwitz: Meine Leitthese ist, dass wir von der industriellen Moderne, die große Teile des 20. Jahrhunderts beherrschte, zur Spätmoderne eine Verschiebung der leitenden gesellschaftlichen Bewertungssysteme beobachten: weg von einer sozialen Logik des Allgemeinen hin zu einer sozialen Logik des Besonderen, die sich seit den 1980er und 1990er Jahren in den Vordergrund schiebt. Es hat diese beiden sozialen Logiken schon immer gegeben – eine, die auf Verallgemeinerung und Standardisierung setzt, eine andere – etwa in der Romantik – eine Tendenz zu Singularisierung, Besonderheit, Einzigartigkeit, Authentizität. Das Interessante ist, dass diese früher minoritäre Gegentendenz, die Singularisierungslogik, in den letzten Jahrzehnten immer mehr strukturbildend geworden ist.

 

Wie unterscheidet sich Singularität, also Einzigartigkeit, von Individualität?
Wir haben in der Soziologie traditionsreiche Begriffe wie Individualismus, Individualisierung oder Individualität. Ulrich Beck z. B. verband mit dem Begriff der Individualisierung die Idee, dass die Individuen freigesetzt werden aus kollektiven Bindungen. Natürlich ist das, was ich Singularisierungsprozesse nenne, damit verwandt, aber ich nehme damit doch eine andere Perspektive ein. Es geht mir darum, dass Einzigartigkeiten und Besonderheiten sozial-kulturell fabriziert werden. Das ist gerade kein Freisetzungsprozess, sondern ein Fabrikationsprozess, in dem etwas einzigartig „gemacht“ wird. Hinzu kommt: Diese Einzigartigkeiten und Besonderheiten umfassen nicht allein Individuen, sondern auch Dinge, die in der spätmodernen Kultur singularisiert werden. Für Kunstwerke galt das schon immer, mittlerweile auch für viele Waren und Dienstleistungen. Auch räumliche Einheiten werden singularisiert als Orte mit einem Identifikationswert, die nicht austauschbar erscheinen. Zeitliche Einheiten können ebenfalls singularisiert werden – als Events, herausgehobene Momente. Selbst Kollektive lassen sich singularisieren als besondere Kollektive, die sich von anderen unterscheiden. Auf allen diesen Ebenen des Sozialen findet in der Spätmoderne eine Fabrikation von Singularitäten statt.

 

Wo im alltäglichen Leben lässt sich diese neue Norm des Anspruchs auf singuläre Einzigartigkeit festmachen?
Z. B. bei der Ernährung. Klassischerweise geht es da um Funktionalität, um Nährstoffe und Sättigung. In der Ernährungskultur der Gegenwart geht es dann aber auch um Schinken, der aus einer bestimmten Region kommt, oder um Bioprodukte, die eine bestimmte Herkunftsgeschichte haben – da spielt auf einmal auch bei der Ernährung die Besonderheit des einzelnen Nahrungsguts eine Rolle. Konsumenten betrachten es so unter ethischen oder ästhetischen Aspekten. Das hat auch eine narrative Dimension: Welche Geschichte steckt in einem Wein, einer Schokolade, einem Brot oder der kulinarischen Tradition der Karibik?

Ein zweites Beispiel für Singularisierungsprozesse ist die Entwicklung von Städten auf der Suche nach Alleinstellungsmerkmalen. Die einzelne Stadt will nun ganz anderes sein als andere. Bis in die 1970er Jahre hinein war jede Industriestadt mehr oder weniger gleich, die Ähnlichkeit war auch kein Problem für die Bewohner – aber das genügt angesichts hoher räumlicher Mobilität nicht mehr. Jetzt geht es der Stadt um Besonderheit sowohl in der Inszenierung nach außen wie auch in der inneren, räumlichen und atmosphärischen Ausgestaltung der Stadt, in der auch Bewohner an der Authentizität des einzelnen Stadtviertels interessiert sind.
Ein drittes Beispiel ist die Singularisierung von Kollektiven: regionalistische Bewegungen wie in Schottland oder Katalonien, wo auf einmal eine „imagined community“ entdeckt und ausgestaltet wird. Da gewinnt die besondere Geschichte einer Region kulturelle und politische Strahlkraft für eine kollektive Identität.

 

Wer stellt fest, ob etwas einzigartig ist oder nicht? Es sind ja nicht unbedingt den Dingen, den Kollektiven oder Events objektiv innewohnende Eigenschaften. Wer ist der Schiedsrichter über Einzigartigkeit?
Objektive Singularität gibt es nicht, sie liegt im Auge des Betrachters. Das sind etwa die Rezipienten, die z. B. entscheiden, ob sie eine Reise als einzigartig erleben. Zum anderen sind Bewertungsinstanzen sehr wichtig geworden. Eine klassische Form wäre beispielsweise die Kunstkritik. Heutzutage sind es auch digitale Bewertungsinstanzen, die bewerten, ob ein Musikclip, bestimmte Hotels, oder YouTube-Darsteller außergewöhnlich erscheinen oder nicht.

 

So wie Sie diese „Bewertungsgesellschaft“ beschreiben, haben die Bewertungen aber keinen stabilen Charakter, sondern können sich ändern. Was bedeutet dies für Menschen, die nach Singularität suchen und feststellen: Das, was heute die Qualität meines Lebens ausmacht, gilt morgen nicht mehr, weil es nicht mehr als einzigartig gewertet wird, also entwertet ist?
Man sollte natürlich nicht vergessen: Auch in der Logik des Allgemeinen wurde und wird immer schon bewertet und verglichen: Was ist billiger oder teurer, welche Leistung hat das Auto etc. Diese rationalistische Bewertung gibt es weiterhin, sie sind allerdings vergleichsweise simpel: mehr oder weniger, besser oder schlechter. Die Valorisierung des Singulären dagegen ist paradox, weil es um Vergleiche von Unvergleichlichem geht. Man versucht es jedoch trotzdem, weil man nur so der Menge an der nach Singularitätsstatus strebenden Elementen Herr werden kann, zum Beispiel über Amazon-Sternen für Bücher oder Musiktitel.
Was bedeutet diese Valorisierungsgesellschaft für die Individuen? Für manche bedeutet es, dass sie sich unmittelbar im Aufmerksamkeitswettbewerb um ihren Einzigartigkeitsstatus befinden, etwa in bestimmten Berufen. Andere beziehen ihre Singularität stärker über die Dinge, mit denen sie zu tun haben. Es wäre aber zu einfach, anzunehmen, dass diese Bewertungen sich zwangsläufig rasch verändern. Vielmehr gibt es auf den Singularitätsmärkten zwei unterschiedliche Zeithorizonte: einerseits einen sehr kurzen, andererseits einen sehr langen Zeithorizont. Vereinfacht gesagt: Es gibt die Mode und es gibt die Klassiker. In der Mode wird etwas gehyped – und dann verschwindet es wieder, es wird rasch entwertet. Parallel gibt es aber auch den Prozess der Klassikerbildung. Ein Urlaubsziel wie Venedig ist seit Langem ein singuläres Urlaubsziel. Es gibt Autoren, Universitäten, Designobjekte, die langfristig Klassiker-Charakter haben. Für das Individuum bedeutet das: Auf die Moden kann man sich nicht verlassen, sie sind fluide, die Klassiker aber bieten einen Ausweg langfristiger Singularitätsreputation. Deswegen sind sie ja auch bei jenen Milieus mit hohem kulturellem Kapital so beliebt.

 

Sie weisen darauf hin, dass die Valorisierungsgesellschaft ein kultureller Prozess ist. Damit rückt „Kultur“ ins Zentrum, wird zum Motor gesellschaftlicher Entwicklung. Wir kennen die Bandbreite von Hochkultur bis zum erweiterten Kulturverständnis. Brauchen wir einen neuen Kulturbegriff, um dieser neuen Bedeutung gerecht zu werden?
Tastsächlich: Singularisierung bedeutet Kulturalisierung, eine Expansion von Objekten, Räumen, Zeiten etc., die als kulturell erscheinen. Mit Durkheim gesprochen: Elemente, die nicht als profan, sondern im weitesten Sinne als sakral erscheinen, oder mit Max Weber das, was nicht zweckrational ist, sondern wertrational. Ich würde also Kultur hier als das verstehen, was in der Gesellschaft mit Wert aufgeladen wird, was wertvoll erscheint.

 

In Ihrem Verständnis von Kulturalisierung als Zuschreibung von Wert spielt „Affekt“ eine große Rolle, als Eigenart von Singularität. Was bedeutet das?
Affizieren bedeutet, dass uns etwas berührt und bewegt. Hohe Erregungsintensität, sei es Freude oder Lust, Wut oder Angst ist charakteristisch für jene Bereiche der Gesellschaft, in denen kulturalisiert und singularisiert wird. In der Sphäre der formalen Rationalität und der Standardisierung des Allgemeinen dagegen ist wenig Affizierung am Werk.

 

Was bedeutet das für klassische Kulturinstitutionen, wie z.B. Museen? Viele betreiben nicht nur das Bewahren und Konservieren von Artefakten, sondern verstärkt auch Eventproduktion. Liegt darin auch ein Risiko?
Das ist eine zwiespältige Angelegenheit. Singularisierung galt schon immer für die Kunst, die Singularität der Kunstwerke unterschied sie gerade vom großen rationalistischen Rest der Gesellschaft. In der Spätmoderne werden nun aber jene Sphären der Gesellschaft, die zuvor der Ort des Standardisierten waren, selbst zu Feldern der Kulturalisierung. Das gilt insbesondere für die Ökonomie und die Technologie, die in der klassischen Moderne als geradezu antikulturell galten. In der Ökonomie haben wir nun einen kulturellen Kapitalismus mit einer reichhaltigen Welt kultureller Güter und Events. Aber auch die beherrschende Technologie der Spätmoderne – die digitale – läuft nicht mehr sachlich neutral im Hintergrund ab, sie bildet vielmehr eine Art Kulturmaschine, in der ständig Narrationen und Bilder zirkulieren und Affizierungen stattfinden. Kultur umgibt mittlerweile den Alltagsmenschen der Spätmoderne also in einer Weise wie nie zuvor.
Das ist für die Kulturinstitutionen eine schwierige Situation: Wenn überall Kultur ist – was macht dann noch das Besondere der Kulturinstitutionen aus? Wie kann man angesichts des Aufmerksamkeitswettbewerbs mit Erlebnisreisen, Computerspielen, Netflixserien oder durchkuratierten Restaurantbesuchen noch bestehen?
In dieser Situation fangen die Kulturinstitutionen an, sich der Formate, die der kulturelle Kapitalismus und die digitale Kulturmaschine bieten, zu bedienen, Stichwort Eventisierung Interaktivität in Museen, Instagram-fähige Ausstellungsbesuche etc. Man kann natürlich fragen, ob die Kulturinstitutionen sich in mancher Hinsicht nicht gerade in Differenz zu dem, was wir aus Internet und Ökonomie kennen, entwickeln sollten. Das wird ja auch versucht: Reflexion, Kontemplation, Konzentration, Irritation, Konfrontation mit Ambivalenzen ohne Handlungsdruck – wir kennen das alles aus der ästhetischen Theorie, aber es können auch Anforderungen an die spätmodernen Kulturinstitutionen sein.

 

Sie nennen eine „neue Mittelklasse“ als wesentlichen sozialen Träger von Singularisierungs- und Valorisierungsprozessen. Die Klassen und Schichten traditioneller Soziologie treten bei Ihnen in den Hintergrund – aber sie verschwinden nicht. Wir haben nach wie vor Produktionsverhältnisse und Produktionsmittel, industrielle Produktion und Bildungssysteme.
In der Spätmoderne lösen sich diese sozialen Großgruppen nicht zugunsten von Pluralisierung oder Individualisierung auf, wie es Ulrich Beck oder Gerhard Schulze suggeriert haben. Die Transformation von Ökonomie und Kultur in Richtung Postindustralisierung und kulturellen Kapitalismus lässt wieder soziale Klassen sichtbar werden. Diese unterscheiden sich voneinander hinsichtlich ihrer Arbeitsformen, aber zugleich hinsichtlich ihrer kulturellen Lebensstile. Seit den 1980er Jahren ist nun aus der nivellierten Mittelstandsgesellschaft eine hochqualifizierte neue Mittelklasse emporgestiegen. Sie haben hohe Bildungsabschlüsse, sie arbeiten in der Wissensökonomie, wohnen eher in den Metropolregionen. Sie sind die liberale Trägergruppe der genannten Kulturalisierungs- und Singularisierungsprozesse. Im Zuge der Entindustrialisierung ist aber auch eine neue prekäre Klasse – das Erbe der alten Arbeiterschaft – abgerutscht, und die alte Mittelklasse steht teilweise verunsichert dazwischen.

 

Wer sind die Verlierer oder jedenfalls die, die es schwer haben, es ist ja auch ein Erwartungs- und Anforderungsdruck?
Die singularisierte und kulturalisierte Gesellschaft ist kein postmodernes Reich der Freiheit. Es ist eine Gesellschaft, die massiv mit Aufwertungen und Entwertungen hantiert – eben eine Valorisierungslogik. Neben den Dingen, Orten, Menschen, die singulär und wertvoll erscheinen, gibt es auch solche, die abgewertet werden, gesichtslos, wertlos erscheinen.
Das gilt etwa für die räumlichen Strukturen: Den Metropolregionen, die Ambitionierte und Investoren anziehen und ökonomisch prosperieren, die als attraktiv gelten, sind seit den 1990er Jahren zunehmend die Gewinner, während viele kleinstädtische Regionen in Frankreich, in den USA, in England, aber auch in Deutschland zu abgehängten Regionen werden.
Auf der Ebene der Individuen werden Menschen zu Verlierern, die in Bereichen arbeiten, wo es nicht um Innovation oder Kreation geht, sondern um das, was die Arbeitssoziologie „Normalisierungsarbeit“ nennt. Unauffällige Arbeit, wo es darum geht, einen Normalzustand aufrechtzuerhalten. Reinigung, Sicherheit, Pflege – unauffällige, fast unsichtbare Arbeit, die wenig Anerkennung findet und auch schlecht bezahlt wird. Auch in der alten Mittelklasse gibt es Menschen, die zwar materiell wohlsituiert sind, aber auch dort wirken subtile Entwertungsprozesse – Entwertungen der ländlichen Region, des mittleren Bildungsabschlusses, der Werte der Stabilität und Ordnung. Man fühlt sich in der Defensive angesichts des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses.

 

Was bedeutet in diesem Kontext das Anwachsen rechtsextremer Strömungen in Deutschland? Dort finden auch kulturelle Entmischungen und Bildung neuer Kollektive statt. Ist das auch widersprüchlicher Ausdruck von Singularität oder Widerstand gegen Singularität?
Der Rechtspopulismus ist sicher eine Reaktion auf die Deklassierungs- und Entwertungsgefühle in Teilen der alten Mittelklasse und der prekären Klasse, vor allem in den kleinstädtischen Regionen.
Bemerkenswerterweise funktioniert die Politik des rechten Populismus im Kern weniger über die Mobilisierung materieller Interessen als ebenfalls über den Faktor Kultur – die Frage nach der Heimat, nach der Anerkennung, nach dem Gefühl von Ordnung und Sicherheit. Im Unterschied zur Hyperkultur der neuen Mittelklasse, die Singularisierung vornehmlich an Dingen und Individuen festmacht, bindet der Populismus Kultur eindeutig an das Kollektiv: Es geht um kollektive Identität, wobei nun die Gemeinschaft selbst mit Singularitätsanspruch auftritt – der Singularität der weißen Amerikaner, Franzosen, Deutsche etc. In der Hauptkonfliktlinie der spätmodernen Gesellschaft hantiert man also auf beiden Seiten der Barrikade mit Kulturalisierung und Singularisierung – jedoch eben in unterschiedlicher Weise. Aber „Die Gesellschaft der Singularitäten“ ist tatsächlich eine übergreifende Struktur.

 

Vielen Dank.

 

Dieses Interview ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 02/2020.

Andreas Reckwitz und Hans Jessen
Andreas Reckwitz ist Professor für Vergleichende Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina. Er ist unter anderem Autor von "Die Gesellschaft der Singularitäten" (Suhrkamp Verlag). Hans Jessen ist freier Journalist und ehemaliger ARD-Hauptstadtkorrespondent.
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