Krisen beinhalten auch Chancen

Gesellschaftliche Transformation sinnvoll nutzen

Das Coronavirus hat Europa erreicht. Kulturgeschichtliche Bilder von Kreuzen an Haustüren für Pest- und Cholera-Erkrankte mischen sich mit aktuellen Bildern von Schutzanzügen und abgeriegelten Quarantäneräumen. Größere Veranstaltungen, Kulturevents wie die Leipziger Buchmesse oder der Karneval in Venedig, wurden abgesagt. Große Verunsicherung besteht mit Blick auf gemeldete Erkrankungen und Todesfälle.

 

Das Coronavirus bringt Leid über eine Vielzahl an Menschen weltweit. Krankheiten sind Launen der Natur – hier hat der Mensch nur eingeschränkt Handlungsoptionen. Und dennoch – so irreal dies für einzelne Betroffene klingen mag – da Krisen große Herausforderungen für die Gesellschaft sind, bergen sie immer auch Chancen, gesellschaftlichen Wandel voranzutreiben. Selbst der Zweite Weltkrieg, der unfassbares Leid über die Menschheit gebracht hat, hat beispielsweise unbeabsichtigt auch die Gleichberechtigung vorangetrieben. Frauen „übernahmen“ Männerberufe, da die Männer zu Kriegshandlungen eingezogen wurden. Nach Kriegsende ließen sich Frauen, zumindest bei den Siegernationen, nicht mehr so einfach auf häusliche Aufgaben reduzieren.

 

Mit dem Coronavirus haben sich nicht nur neue kulturelle Begrüßungsrituale etabliert – von der Faust bis hin zum Fußspitzenberühren statt Händeschütteln. Beispielsweise erhalten auch Aspekte der Nachhaltigkeit, die wir schon lange diskutieren, jedoch nicht konsequent umsetzen, eine neue Aktualität: Die zwangsweise Unterbrechung globaler Ketten, z. B. des Exports aus China oder Indien, oder auch die Hamstereinkäufe führen pragmatisch zu einem neuen Bewusstsein für regionales Produzieren. Berufliche Reisen werden auf ihre wirkliche Notwendigkeit hin neu bewertet und in Teilen sehr konsequent durch digitale Kommunikation ersetzt.

 

Das unermüdliche Streben einer ökonomisierten Leistungsgesellschaft wird erstmals infrage gestellt. Aufgrund von Quarantäne und Ansteckungsgefahr läuft das berufliche Leben auf einmal beschaulicher: Meetings und Veranstaltungen werden abgesagt, Organisationsabläufe und Arbeitsprozesse verlangsamt. Und wir stellen fest, die Welt im eigenen sozialen Umfeld bricht nicht sofort zusammen, wenn auch globale Effekte zu registrieren sind, beispielsweise Abstürze bei den Börsen.

 

Auch die Digitalisierung der Kultur nimmt ungeahnt erstmals an Fahrt auf: Das Goethe-Institut in Italien bietet, aufgrund der Schließung seiner Zweigstellen, Sprachkurse digital an. Die Leipziger Buchmesse versucht Teile des geplanten Bühnenprogramms ins Netz zu verlegen. Auch das „International Film Festival and Forum on Human Rights“ mit jährlich rund 40.000 Besuchern in Genf übertrug kurz entschlossen Filme, Podiumsdiskussionen und Juryabstimmungen ins Internet. Der Festivalleiter Bruno Giussani sieht laut Süddeutscher Zeitung hier sogar einen Vorteil: „In seiner virtuellen Form kann das Festival mit seinen Anliegen sehr viel mehr Menschen auf der ganzen Welt erreichen.“ Damit ist natürlich nicht gemeint, künftig auf analoge Angebote zu verzichten, aber die Chance zu nutzen, das Analoge um das Digitale zu erweitern.

 

Es gibt auch weniger schöne Reaktionen auf das Coronavirus, wie die Hamstereinkäufe, das unsolidarische Horten von Desinfektionsmitteln und Mundschutz. Dies zeigt nicht zuletzt: Nicht nur die Krise hat Auswirkungen auf die Gesellschaft, sondern es liegt auch am kulturellen Gestaltungswillen der Menschen, wie sich Krisen entwickeln. Das Auftreten von Krankheiten können wir – im Gegensatz zu Kriegen – nicht beeinflussen. Wir können jedoch, statt panisch auf Krisen zu reagieren, gestalterisch gegebene Herausforderungen aktiv aufgreifen und dabei auch entwickelte neue Formen guter Praxis im Sinne gesellschaftlicher Transformation nach Ende der Krise beibehalten!

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 04/2020.

Susanne Keuchel
Susanne Keuchel ist ehrenamtliche Präsidentin des Deutschen Kulturrates und Hauptamtlich Direktorin der Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW.
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