Debatte: Christliche Missionen

Kritik zu Bernhard Maiers „Die Bekehrung der Welt“

Plötzlich ist die Geschichte der christlichen Missionen ein öffentliches Debattenthema, weit über die Grenzen des Kirchlichen hinaus und mitten in die aufgeladenen Diskussionen um Rassismus, Postkolonialismus und Restitutionen hinein. Wer hätte das noch vor wenigen Jahren für möglich gehalten? In den Kirchen stritten konservative und progressive Gruppen hin und wieder darüber, ob „Mission“ noch ein zeitgemäßer Begriff sei. Währenddessen hat sich die Arbeit der ehemaligen Missionsgesellschaften längst in Versöhnungs-, Entwicklungs- und Partnerschaftsarbeit verwandelt. Auch wird die Missionsgeschichte seit Jahrzehnten intensiv erforscht. All dies geschah abseits einer allgemeinen Aufmerksamkeit. Mit einem Schlag hat sich dies verändert. Doch fällt bei dem neuen und sehr erfreulichen Interesse ein Missverhältnis auf: Auch wenn die Forschungsbibliotheken zur Missionsgeschichte überquellen, sind im allgemeinen Bildungsbewusstsein nur eine Handvoll Klischees im Umlauf. Wie alle Klischees sind sie nicht falsch, aber zu schlicht, um die Grundlage einer soliden Urteilsbildung abzugeben.

 

Da kommt das neue Buch des Tübinger Religionswissenschaftlers Bernhard Maier gerade recht. Es trägt den ansprechend-zwielichtigen Titel „Die Bekehrung der Welt“, schiebt aber im Untertitel angemessen bescheiden hinterher, dass es nur „eine“ und nicht „die“ Geschichte der christlichen Missionen in der Neuzeit bieten wolle. Doch Maier setzt früher ein. Denn von seinen Anfängen an hat sich das Christentum als – nach dem Buddhismus zweite – Missionsreligion verstanden. Und dies nicht nur, weil es einen Absolutheitsanspruch erhob, sondern weil es – anders als die älteren Volksreligionen – einen Begriff von Menschheit besaß. Dieser folgte aus dem Glauben an den einen Gott der ganzen Welt, der nicht mehr an eine Region, eine Gruppe gebunden ist. Deshalb sprach der neue Glaube Menschen aller Völker und Kulturen an, die sich ihm in einem Entscheidungsakt anschließen und dadurch von ihrer Herkunft lösen konnten. Dieses Zusammenspiel aus religiöser Individualisierung und Globalisierung barg jedoch stets die Gefahr in sich, das Eigenrecht anderer Religionen und Kulturen zu verletzen. Dieser Aspekt ist so wichtig, weil er in säkularer Gestalt auch heutige Entwicklungsarbeit und Kulturarbeit im Ausland prägen kann: Wenn man „Menschheit“ denkt – weil man an den einen Gott glaubt oder weil die Menschenrechte für einen zentrale Grundprinzipien sind –, ist man geneigt, „Mission“ zu betreiben, ob man es so nennt oder nicht.

 

Der christliche Missionsgedanke entfaltete seit dem 15. Jahrhundert, mit der beginnenden europäischen Unterwerfung der Erde, eine ungeheure Dynamik. Maier zeigt diese weltumspannende und höchst komplexe Geschichte in großen, klaren Linien. Es ist bewundernswert, wie souverän er seinen immensen Stoff organisiert und wie sorgfältig er einer differenzierten Urteilsbildung zuarbeitet. Von retrospektiver Empörung scheint er ebenso wenig zu halten wie von bemühter Apologie. Betont sachlich beschreibt er, was geschah, und zeigt dabei auf, dass die christlichen Missionen nicht identisch mit den militärischen und wirtschaftlichen Kolonialismen waren, sie oft genug kritisierten, anderes wollten, auch Besseres bewirkten – die heutigen Sprach-, Kultur- und Religionswissenschaften sind, ohne die alten Missionare nicht zu denken – und dennoch stets den europäischen Herrschaftssystemen und deren Ideologien verhaftet blieb, innerhalb derer sie überhaupt nur möglich waren. Das eröffnet beim Lesen ambivalente Assoziationen zur säkularen Entwicklungsarbeit und Auslandskulturpolitik heute.

 

Maiers wohltuende Nüchternheit hat einen Preis. Der schiere Irrwitz, der in seinem Stoff steckt, könnte plastischer dargestellt werden. Man versuche nur, sich die Einsamkeit der Missionare und ihrer Familien, ihre Weltverlorenheit in der Fremde, die absurden Verständigungsschwierigkeiten, die Entbehrungen, die Gewaltträchtigkeit, den Widerspruch zwischen hehren Ansprüchen und kümmerlicher Wirklichkeit vorzustellen. Es bräuchte wohl jemanden wie Joseph Conrad, um den Wahnsinn dieser Unternehmungen nachvollziehbar zu machen, in denen alles nur in den vermeintlich allerbesten Absichten geschah und zugleich aus einem unerschütterlichen Gefühl eigener Überlegenheit. Sehr überzeugend aber zeigt Maier, dass die Geschichte der christlichen Missionen vor allem die Summe ihrer unbeabsichtigten Nebenwirkungen und ungewollten Rückkoppelungen ist. Denn Mission ist am Ende immer auch das, was die Missionierten aus ihr machen. Religionen sind keine fixen, statischen Größen, sondern sie verbinden, vermischen und verändern sich bei jeder Begegnung mit einer anderen Religion. So hat die Mission weniger dazu geführt, dass Afrika christianisiert, als dass das Christentum afrikanisiert wurde. Häufig löste sie Gegenreaktionen wie die Geistertänze in Nordamerika aus oder Neubildungen wie die Cargo-Kulte im Pazifik. Oder sie bewirkte, dass sich in anderen Religionen, wie im Hinduismus, erfolgreiche Reformbewegungen bildeten. Manche von ihnen wurden selbst missionarisch tätig. Der globale Yoga-Boom lässt sich auch als paradoxe Spätfolge christlicher Mission deuten.

 

Schade ist, dass Maier sein Buch in den 1970er Jahren enden lässt. Dadurch bleiben für heutige Debatten wichtige Aspekte unausgesprochen. Zum einen, dass viele Missionsgesellschaften längst auf postkoloniale Partnerschaftsarbeit umgestellt haben, manche früher als Politik und Kulturpolitik. Nur ein Beispiel: Die Vereinigte Evangelische Mission hat 1977 in einem Gottesdienst mit Partnern aus Namibia ein „Schuldbekenntnis“ und eine „Bitte um Erneuerung“ formuliert. Zudem sind die ehemaligen Missionskirchen heute eigenständige Kirchen, die auf ihre Missionsgeschichte als Teil ihrer Identität stolz sind. Einige werden deswegen massiv bedrängt, z. B. in Indien. Wenn postreligiöse Europäer damit in Berührung kommen, reagieren sie zumeist peinlich berührt. Das führt dazu, dass die christlichen Stimmen aus dem globalen Süden und Osten nicht gehört werden. Es gibt im Nordwesten der Erde eben auch einen säkular-missionskritischen Paternalismus.

 

Schließlich könnte das vorzeitige Ende dieses Buches den Eindruck nahelegen, als sei die Missionsgeschichte abgeschlossen. Das aber würde verhindern, dass man sie wie einen fernen Spiegel betrachtet, in dem man sich selbst erkennen kann. Genau dies jedoch würde sich lohnen. Denn man kann die These aufstellen, dass die Nichtregierungsorganisationen von heute säkularisierte Nachfolgerinnen der protestantischen Missionsgesellschaften des 18. und 19. Jahrhunderts sind, auch wenn sie das wohl nicht so gern hören. Aber wie diese folgen sie einem emphatischen Begriff von Menschheit, aus dem sie eine globale Agenda entwickeln – zwar nicht der „Bekehrung“, aber der „Entwicklung“, nicht des Glaubens an Gott, wohl aber der Universalität der Menschenrechte. Auch in ihrer Organisation und Methodik wandeln sie in den Spuren der alten Missionsgesellschaften. Diese waren Bürgerbewegungen, die sich in freien Netzwerken entfalteten und durchaus Distanz zur Obrigkeit in Staat, Militär, Wirtschaft und Kirche hielten. Sie waren die Begründer des heutigen Menschenrechtsaktivismus, blieben aber den ungerechten und gewaltsamen Strukturen verhaftet, die ihre Herkunftsnationen anderen Ländern aufgezwungen hatten.

 

So schwankten sie zwischen Kritik und Kollaboration, leisteten humanitäre Hilfe, dies jedoch im Rahmen massiver Eingriffe von außen. Man könnte noch weitere Ähnlichkeiten auflisten. Die Missionsgeschichte ist keineswegs zu Ende, sondern geht in säkularer Gestalt weiter. Wer sie kennt, vermag, die Gegenwart besser zu verstehen. Nicht erst die gescheiterte – militärische, aber auch entwicklungs- und kulturpolitische – Afghanistan-“Mission“ bietet Anlass, in dieser Perspektive über die Notwendigkeit und die Problematik weltumspannend guter Absichten nachzudenken. Maiers Buch bietet dafür die historische Grundlage.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 03/22.

Johann Hinrich Claussen
Johann Hinrich Claussen ist Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland.
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