Abschied von unserer Leiterinnerung

Im Schatten des Humboldt Forums findet ein Selbstentkernungsversuch statt

Karl Jaspers hatte einst von der „Beliebigkeit des Zufalls“ gesprochen. Mir ist diese Formulierung aus seinem berühmten Buch von 1931 über „Die geistige Situation der Zeit“ wieder eingefallen, als ich just am Tag der feierlichen Eröffnung eines weiteren Teils des Humboldt Forums eine Pressemitteilung aus dem Hause Monika Grütters bekam, wonach die Bundeskulturministerin am selben Abend auch noch das Reeperbahnfestival in Hamburg eröffnen werde. Man wird der Ministerin nicht verübeln, dass sie am Ende ihrer jetzigen Amtszeit noch einmal Erntedankfest feiern möchte, wo immer sich die Gelegenheit für sie bietet. Aber im Kontrast dazu fällt auf, mit welch eiligen Schritten das Humboldt Forum ins Leben entlassen wurde. Jetzt stünde es hier, hat der Bundespräsident in seiner Eröffnungsrede gesagt, aber eigentlich, so möchte man doch ergänzen, weiß keiner der Verantwortlichen mehr, was er damit anfangen soll. Dabei hatte es einmal der ganz große Paukenschlag werden sollen. Die Berliner Republik wollte sich mit dem Schloss selbst bekrönen.

 

Jetzt heißt die Devise wohl nur noch: Lieber nicht zu doll auftreten, damit nicht noch mehr Gespenster aus der Vergangenheit aufgeweckt werden. Die preußischen Könige sind längst passé, aber jetzt springen die deutschen Kolonialisten aus ihren Gräbern. Dabei wollte das Humboldt Forum nie ein Museum für Kolonialgeschichte sein. Aber was sonst? Ein Museum für Raubkunst, deren Rückgabe die Feuilletons längst beschlossen haben? Oder ein Ort für die Provenienzforschung? Auch das rettet die Lage nicht.

 

So wird jetzt eine Sammlung von Objekten zu sehen sein, die man irgendwie nur mit spitzen Fingern anfassen möchte. Ihre wirkliche Pracht, ihre grandiose Ausstrahlung lässt man lieber im Halbdunkel verschwinden. Aus einem Haus der Objekte ist ein Haus für Theorien geworden. Man hätte auch schwarz-weiße Reproduktionen zeigen können. Von der „Bestückung“ des Humboldt Forums spricht der Historiker Norbert Frei.

 

„Und nun?“, fragt der Bundespräsident völlig zu Recht. Was will man mit einem Museum anfangen, das gar kein Museum mehr ist? Das die Welt nur als Kollage begreift, als ein – wie „Die Zeit“ schreibt – „freundlich zusammengeschnipseltes Klischee“. Aber Frank-Walter Steinmeier wäre nicht der, der er ist, wenn er sich die Antworten nicht gleich selbst gäbe. Nicht die blinden Flecken der deutschen Kolonialgeschichte und nicht die Leerstellen im kollektiven Gedächtnis sind es, die ihn beunruhigen, sondern dass unser Land ein „Land mit Migrationshintergrund“ geworden sei und wie man dem im Humboldt Forum wohl Rechnung tragen könne. Denn mit der Umbenennung von Straßenschildern ist es nicht mehr getan. Viele Lebensgeschichten sollen heute nebeneinander erzählt werden. Aber sie treten auch plötzlich zueinander in Konkurrenz.

 

Das ist der tiefere Konflikt, der gerade im Humboldt Forum ausgetragen wird. Und sein Ausgang ist viel ungewisser, als es der Bundespräsident sagt. Denn einer postkolonialen Umformulierung unserer nationalen Erzählung steht unsere Sicht auf den Holocaust unumgänglich im Weg. Kolonialismus und Holocaust lassen sich eben nicht so einfach nebeneinanderher erzählen. Das hat das Erschrecken über die Thesen von Michael Rothberg oder Dirk Moses jüngst wieder gezeigt. Die Idee des neuen „multidirektionalen Erinnerns“ bedeutet eben nicht das harmlose Miteinander; die brüsken Forderungen, auch den Holocaust endlich zu dekolonisieren, drücken die Konflikte sehr viel deutlicher aus.

 

Der Holocaust solle „globalisierungskompatibel“ gemacht werden, diagnostiziert der Berliner Historiker Sebastian Conrad; der Völkermord an den europäischen Juden diene als „Türsteher“, um kolonialen Themen endlich den „Einlass in den Kreis der legitimen Fragestellungen“ zu verschaffen. Formulierungen, die einem die Haare zu Berge stehen lassen. Offenkundig stört „die überragende Aufmerksamkeit“, die der Judenmord in der Vergangenheit gefunden hat, wie Norbert Frei schreibt. Man kann es auch noch direkter formulieren: Die Singularität des Holocausts hat keinen Platz mehr im postkolonialen Diskurs.

 

Doch die Überzeugung von dieser Singularität ist zum Kern unserer deutschen Erinnerungskultur geworden, zum Grundkonsens, auf dem die moralische Wiedererrichtung unseres Landes überhaupt erst möglich wurde. „Mit jenem Lebenszusammenhang, in dem Auschwitz möglich war“, hatte Jürgen Habermas seinen Kontrahenten im ersten Historikerstreit vorgehalten, sei „unser eigenes Leben nicht etwa durch kontingente Umstände, sondern innerlich verknüpft.“ Niemand von uns könne sich „aus diesem Lebenszusammenhang, diesem historischen Milieu herausstehlen, weil mit ihm unsere Identität, sowohl als Individuen wie als Deutsche, unauflöslich verwoben“ sei.

 

Man hätte eine entsprechende Intervention von ihm auch jetzt erwartet. Aber in der jüngsten Ausgabe des „Philosophie Magazins“ vollzieht er einen überraschenden Positionswechsel. Das Beharren auf dem „singulären Zug des Holocausts“, so formuliert er dort, bedeute natürlich nicht, dass sich „das politische Selbstverständnis der Bürger einer Nation einfrieren“ lasse. Unsere politische Kultur müsse sich deshalb heute so erweitern, „dass sich Angehörige anderer kultureller Lebensformen mit ihrem Erbe und gegebenenfalls auch ihrer Leidensgeschichte darin wiedererkennen können“. Und es bleibt nur die vage Hoffnung, dass die neuen Bürger die politische Kultur und das geschichtliche Erbe unseres Landes vernünftigerweise „akzeptieren“ werden. Jüngere Autoren wie Per Leo formulieren noch rigoroser: Wir seien in einer Welt angekommen, heißt es im Anschluss an Habermas, die „im Klammern an die deutsche Geschichte nicht mehr zu begreifen ist“.

 

Man reibt sich die Augen und versteht, warum von einem zweiten Historikerstreit die Rede ist. Wir erleben gerade, so kann man mit Sebastian Conrad zusammenfassen, wie das alte Erinnerungsregime der Bundesrepublik ersetzt wird durch ein neues. Nach dem Abschied von der Idee einer Leitkultur beginnt jetzt wohl auch der Abschied von unserer Leiterinnerung. Die das heute so freudig begrüßen, übersehen freilich, dass nicht mehr sehr viel bestand, was diesem Land nach der deutschen Katastrophe moralischen Halt und einen halbwegs verlässlichen Orientierungsrahmen geben konnte. Was im Schatten des Humboldt Forums gerade probiert wird, ist ein grandioser Selbstentkernungsversuch. Oder sollte man besser sagen: Auch das ist eine Art von Schadensabwicklung.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2021.

Johann Michael Möller
Johann Michael Möller ist Ethnologe und Journalist. Er war langjähriger Hörfunkdirektor des MDR.
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