Simulation von Gesellschaft

Science-Fiction als Raum für Experimente

Der Soziologe Jan Fuhse hat die Science-Fiction einmal als „Simulation von Gesellschaft“ bezeichnet, in der es aber eben nicht um Flucht aus ebendieser, sondern um Kritik an ihr gehe. So betrachtet, kann man das Genre als einen Raum für Experimente und einen Ort der Begegnung sehen.

 

Der Bezug zu Technik und Wissenschaft ist prägend, wenn nicht gar ausschlaggebend, für die Science-Fiction. Im ausgehenden 19. Jahrhundert wälzte die Industrielle Revolution ganze Gesellschaften um. Es erschien also nur folgerichtig, dass sich ein Genre bildete, welches die Perspektiven von neuen Technologien auch literarisch erörterte. Ein wesentlicher Fixpunkt in Science-Fiction-Texten ist das „Novum“, ein Begriff, den sich der jugoslawische Science-Fiction-Forscher Darko Suvin vom Philosophen Ernst Bloch lieh. Das Novum ist Suvin zufolge eine plausibel erscheinende Innovation, die eine Entwicklung antreibt und neue Wege aufzeigt, über unsere Gesellschaft nachzudenken. Dieses Novum muss nicht im eigentlichen Sinne neu sein, es kann auch etwas Unbekanntes, geradezu Andersartiges sein, etwa wenn sich die Menschheit dank neuer Ideen auf Entdeckungsreisen begibt und dabei Begegnungen mit dem Fremden stattfinden.

 

Populär wurde Science-Fiction in den 1920er Jahren durch die von Hugo Gernsback verlegte Zeitschrift „Amazing Stories“. Gernsback war ein US-amerikanischer Verleger luxemburgischer Abstammung und die vom ihm verlegten Geschichten galten als „Pulp Fiction“. Daher rührt wahrscheinlich auch die bis heute nachwirkende Abfälligkeit, mit der sich Science-Fiction seitens der Forschung und der Literaturkritik konfrontiert sah: Science-Fiction galt als mindere Kunstform, schnell geschrieben und für den Massenmarkt gedacht.

 

Gleichwohl liegen die Wurzeln der Science-Fiction aber weiter zurück. Verschiedentlich wird Mary Shelleys Frankenstein aus dem Jahre 1818 als erste Science-Fiction-Geschichte überhaupt angesehen. Frankenstein symbolisiert einerseits die Möglichkeiten, andererseits die Gefahren von neuartiger Technik: Ein Wissenschaftler kreiert einen künstlichen Menschen und erhebt sich damit zum Herrscher der Natur. Diese wiederum rächt sich sogleich an ihrem neuen Schöpfer. Eine ähnliche Prämisse verfolgte rund 80 Jahre später H. G. Wells mit „Die Insel des Dr. Moreau“. Auch Wells ist noch der Frühform des technisch-wissenschaftlichen Erfindens verhaftet. Seine Kreaturen im Roman – Dr. Moreau hatte menschenähnliche Tierwesen erschaffen – sind rein biologischer Natur und noch spielt die Technik in Gestalt der Maschine keine Rolle.

 

Das sollte sich später wohlweislich ändern, etwa bei den Robotergeschichten von Isaac Asimov, der übrigens ein eifriger Leser der „Amazing Stories“ gewesen sein soll. Der Mensch erschafft nun dank technischem Fortschritt Maschinenwesen: Der Roboter wird geboren. Die Menschheit wird nun zur transzendenten Figur. Interessant dabei ist, wer hier wen beherrschen kann und darf: Der Mensch die Natur – und damit auch die Maschine – oder die Natur den Menschen. Dabei schwingt auch die Angst vor dem Neuen mit, dass Technik den Menschen entmündigen könne und sich die Maschine gegen den Menschen richtet. Dieses Motiv findet sich nicht erst bei Asimov. Tatsächlich beschäftigte sich schon Fritz Lang 1927 in seinem Filmepos „Metropolis“ mit dieser Frage. Heute gilt „Metropolis“ als erster Science-Fiction-Spielfilm und kein Geringerer als George Lucas setzte mit dem Droiden C3PO in „Star Wars“ dem Maschinenmenschen Langs ein sehr wiedererkennbares Denkmal. Auch in Steven Spielbergs „A. I. – Künstliche Intelligenz“ spielen Androiden, also menschenähnliche Roboter, und der Umgang mit ihnen eine zentrale Rolle. Der Film basiert übrigens auf einer Kurzgeschichte des Science-Fiction-Autors Brian Aldiss.

 

Wissenschaftlich-technischer Fortschritt kann man also als fortwährende Grenzüberschreitung sehen, die in der ethischen Frage endet, wie „vernünftig“ eine Kreatur oder eine Maschine sein muss, um der Menschheit nicht zu schaden und wie wir selbst „vernünftig“ mit neuer Technologie umgehen müssen. Science-Fiction ist also ein Versuchslabor und die Erkenntnisse in der Science-Fiction Leitbilder für richtiges und vernünftiges Handeln in der Zukunft. Science-Fiction hat in diesem Sinne stets ein prozesshaft-dynamisches Moment.

 

Das Prozesshafte findet sich auch im Reisemotiv der Science-Fiction wieder. Wenngleich die Erkundung des Weltraums in der Science-Fiction vorherrschend ist, so ist es zunächst zweitrangig, welche Art von Raum tatsächlich bereist wird. Das Novum ist hier, dass dieser Raum ein unbekannter ist. Schon Jules Verne machte intensiv von dem Reisethema in seinen Romanen Gebrauch, seien es die in seinen Romanen beschriebenen Unternehmungen zum Mond, zum Erdmittelpunkt oder in die Tiefen des Meeres. Vernes Figuren sind mutige Beherrscher von neuer Technik, Abenteurer und Entdecker unbekannter Welten. Wenn es Kapitän Nemo auf seinen Unterwasserfahrten gelingt, allerlei Gefahren zu begegnen und Abenteuer zu bestehen, dann ist das auch ein Triumph der Technik über die Natur. Der Mensch ist dem Unbekannten dank seiner Technik und seiner wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht mehr schutzlos ausgeliefert. Auch bei Zeitreisen begegnet man dem Unbekannten. In H. G. Wells‘ „Die Zeitmaschine“ erreicht der Zeitreisende eine fern in der Zukunft liegende Zwei-Klassen-Gesellschaft von Humanoiden, bei der die vermeintliche Herrenrasse, die Eloi, oberirdisch in einem scheinbaren Paradies lebt und die andere Rasse, die Morlocks, unterirdisch riesige Maschinen betreibt, um den Eloi ihren Lebensstandard zu ermöglichen. Glaubt der Reisende am Anfang, es handele sich bei den Morlocks um Sklaven, die dort unterirdisch leben müssen, so wird ihm klar, dass sie die eigentlichen Herrscher sind und die Eloi nur deshalb am Leben erhalten, weil sie sie als Nahrung benötigen – wie Vieh auf einer Weide. Wells verlegt hier zeitgenössische Kritik an der Klassengesellschaft in die Zukunft und bringt damit utopische – oder hier konkret eher dystopische – Elemente in das Genre ein. Science-Fiction wird gesellschaftskritisch.

Reisen bedeutet aber auch, dort auf andere, unbekannte Lebensformen zu treffen. Das bringt selbstredend ein Problem mit sich: Wie mit dem Anderen umgehen? In Wells’ „Krieg der Welten“ sieht sich die Erdbevölkerung mit einer Invasion von Außerirdischen konfrontiert. Marsianer landen mit ihren Raumschiffen auf der Erde. Die marsianische Technik ist der menschlichen weit überlegen und die Außerirdischen zeigen keinerlei Respekt für menschliches Leben. Auch das ist als Kritik am britischen Imperialismus zu verstehen. Dass die Menschheit überlebt, ist übrigens in dem Roman ausgerechnet einer primitiven Lebensform, nämlich Bakterien, zu verdanken, welche die Marsianer infizieren. Aber längt nicht alle Außerirdischen sind der Menschheit feindlich gesinnt. Steven Spielberg zeigt 1977 in der „Unheimlichen Begegnung der dritten Art“, dass die Menschheit dem Unbekannten, dem Neuen offen begegnen sollte und sich eben nicht verschließen darf.

 

Dass die Science-Fiction Gesellschaftskritik übt, hat sie in gewisser Weise zur zu oft vernachlässigten Schwester der Utopie werden lassen. Sie ist letztlich Ergebnis des Wissenschafts- und Technikoptimismus des 19. Jahrhunderts und versucht eher als die Utopie, durch Extrapolation eine Kontinuität zwischen der Gegenwart und der fiktionalen Zukunft herzustellen. Im Gegensatz dazu tendiert die Utopie in ihrem normativ postulierten Idealbild viel mehr dazu, einen totalen Bruch mit der Realität herzustellen. Die Science-Fiction ist also in ihrer Flexibilität wesentlich dynamischer und erzählt von laufenden Veränderungen, während die Utopie eher ein statisches Ergebnis von Veränderung präsentiert. Wie die Utopie orientiert sich die Science-Fiction aber an unserer Gegenwart und spiegelt diese wider. Mit der Utopie hat die Science-Fiction auch mehr gemein als mit Märchen oder Fantasy. Ersteres spielt meist in einer vergangenen Nebenwelt („Es war einmal …“), Letztere macht sich übernatürliche Elemente wie Fabelwesen oder Magie zu eigen. Insofern ist die „Star Wars“-Saga von George Lucas tatsächlich keine Science-Fiction, auch wenn das verschiedentlich immer behauptet wird, geht es doch hier im Grunde um einen groß angelegten Heldenmythos.

 

Schildert die Science-Fiction also eine Veränderung der Realität, die durchaus im Bereich des Machbaren liegt? Da sie extrapoliert und eine, wenn auch nur spekulative, Kontinuität zur Realität herstellt, erhebt sie damit den Anspruch, dass ihre Spekulationen durchaus realisierbar sind. Was in manchen Punkten auch zutrifft: Waren sprechende Computer und tragbare Kommunikatoren bei „Star Trek“ noch bis in die 1990er Jahre Zukunftsmusik, so hat die Gegenwart mit unseren Smartphones und digitalen Assistenten die Science-Fiction eingeholt.

 

Doch trotzdem bleibt das Genre aktuell. Schon 1968 zeigte Stanley Kubrick in „2001: Odyssee im Weltraum“ mit dem Supercomputer HAL die Gefahren von künstlicher Intelligenz auf. Auch die „Neuromancer“-Trilogie von William Gibson und die „Matrix“-Filme der Wachowskis beschäftigen sich mit dem Thema und nicht zuletzt die neuen „Star Trek“-Inkarnationen wie „Discovery“ führen die Diskussion um diese neuen Technologien fort. Die Science-Fiction verspricht technologischen Fortschritt zum Guten der Menschheit und warnt vor einer Entmündigung durch neue Technik. Sie trägt utopische Elemente in sich, wenn sie etwa wie in „Star Trek“ von einem positiven Humanismus ausgeht, in dem die Menschheit aus ihren Fehlern gelernt hat und sich bessern möchte. Sie kann aber auch zur Dystopie werden, bei der Technologie genutzt wird, um eine totalitäre Herrschaft zu errichten.

 

Sie möchte also vieles. Sie ist Gesellschaftssimulation, Versuchslabor und Spiegel unserer Gegenwart.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 7-8/2021.

Sebastian Stoppe
Sebastian Stoppe ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universitätsbibliothek Leipzig und Autor des Buches „Unterwegs zu neuen Welten: Star Trek als politische Utopie“, erschienen im Büchner-Verlag.
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